Vergebung, Dankbarkeit, Befreiung: Viel Liebe bei Loyle Carner in Berlin
Dass dieser Freitagabend nichts mit den üblichen Rap-Klischees von Misogynie, Materialität und Gewaltfantasien zu tun haben würde, war allen Gästen vorher klar. Warm-up-Act Kofi Stone bringt es aber noch mal auf den Punkt: „Love! Just love!“, ruft er der bis zum hintersten Rand ausverkauften Columbiahalle zu und kündigt damit den britischen Rapper Loyle Carner an, der, ironischerweise, mit dem Song „Hate“ startet. Darin geht es aber nicht um Loyle Carners eigene Abneigungen, sondern darum, wie es ist, als Schwarzer Brite in einer Gesellschaft voller Hass und rassistischer Ressentiments aufzuwachsen.
Loyle Carner, der gerade mit seinem dritten Album „Hugo“ auf Europatour ist, ist bekannt für seine verletzlichen, ehrlichen Texte, die sich neben Themen wie Rassismus und anderen gesellschaftlichen Problemen oft mit Mental Health und Familie beschäftigen. Auch wenn viele von Loyle Carners Songs sehr persönlich sind, sind sie auch immer politisch. In dem Song „Blood on my Nikes“ zum Beispiel geht es um einen Mord, den er mit 16 mit ansehen musste. Sogenannte „Knife crimes“ sind besonders im Süden Londons, wo Loyle Carner herkommt, ein großes Problem – und die Politik macht teilweise Rapper (vor allem aus den Genres Drill und Grime) dafür verantwortlich.
Verletzte Menschen verletzen Menschen.
Loyle Carner
Mit auf der Bühne steht an diesem Abend der britische Jugend-Aktivist Athian Akec, der auch auf dem Album zu hören ist, und der am Ende des Songs zu sanften Klavierakkorden eine ergreifende Rede hält: „We must petition the government to put reason over rhetoric/ Compassion over indifference, equality over austerity/ As knife crime claims more lives within our country/ Never has so much been lost by so many/ Because of the indecision of so few“.
Trotz der teilweise düsteren Themen ist die Tonalität des Konzerts sanft. Das Publikum singt mit, wann immer es geht, wie bei Carners größtem Hit „Ain’t nothing changed“. Bei „Lose Ends“, einer Ballade mit Jorja Smith, werfen sogar einige ihre Handytaschenlampen als Feuerzeugersatz an.
Immer wieder stoppt während des Konzerts die Band ihre Instrumente und Loyle Carner zeigt, dass er selbst a capella ziemlich viel Flow und Melodie in der Stimme hat.
Auf dem letzten Song des aktuellen Albums, „HGU“ (für Hugo), den Carner gegen Ende spielt, geht es um die Beziehung zu seinem leiblichen Vater, der ihn als Jungen im Stich gelassen hat. Hugo, erzählt Carner, sei der Name des Autos seines Vaters, ein roter VW Polo – und über dieses seien sie sich während der Pandemie nähergekommen, als der Vater ihm Fahrstunden gegeben habe.
„Einmal pro Woche, zwei Jahre lang, fuhren wir damit durch London“, erzählt Carner, mittlerweile selbst Vater, dem Publikum, „und zu Beginn war es sehr intense. Ich sagte schreckliche Dinge zu ihm, er sagte schreckliche Dinge zu mir – weil wir sauer waren. Und verletzte Menschen verletzen Menschen.“ Doch nach einer Weile habe er verstanden, warum sein Vater so voller Hass sei – als Schwarzer Mann ohne Privilegien, der sich in einem von Rassismus geprägten Land durchschlagen musste. „Irgendwann habe ich es geschafft, ihm zu vergeben.“
Vergebung, Dankbarkeit, Befreiung – das sind die Themen, mit denen Loyle Carner sein Konzert zu einer Art nicht-religiösem Gottesdienst macht. Mehrfach betont er, wie glücklich er ist, nach Covid wieder auftreten zu dürfen, eine Sache, die er davor für selbstverständlich gehalten hatte.
Loyle Carner scheint mit seinen 28 Jahren ziemlich im Reinen mit sich zu sein. Und das Publikum (fast paritätisch besetzt und zwischen sehr jung und jung) nimmt diese positiven Vibes an; nirgends wird geschubst oder gedrängelt – und als nach gerade mal 70 Minuten ohne Zugabe schon alles vorbei ist, ist auch niemand böse. Just Love, eben.
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