Dokumentarfilm „Tara“ im Kino: Der heilige Fluss, eine Kloake
Ratternd brettert der Bus über die Strada statale und kommt kurz hinter einer Abfahrt zum Stehen, scheinbar im Nirgendwo. Doch der Halt erweist sich als Zugang zu einem lokalen Badeparadies. Überall entlang des kleinen apulischen Flusses Tara gibt es improvisierte, teils über Jahre bestehende Badestellen. Entlang des Wassers haben Menschen Stege errichtet, Jugendliche planschen im hüfthohen Wasser. Zwei Frauen schwimmen durch einen der Arme des Gewässers und fragen sich, wer wohl den Madonnen-Schrein im Schilf des Ufers angelegt hat. Volker Sattel und Francesca Bertin folgen in ihrem Dokumentarfilm „Tara“ dem Fluss und den Menschen.
Unterwasseraufnahmen zeigen die reiche Vegetation, in die die Badenden abtauchen. An einigen Stellen sprudelt schwefelhaltiges warmes Wasser aus dem Grund des Flusses. Die Männer und Frauen reiben sich mit dem Schlamm ein, dem heilende Wirkung zugesprochen wird, an den Ufern wuchern die Pflanzen und Wildkräuter. Mit seiner konstanten Temperatur ist die Tara im Sommer kühl und im Winter mild. Die Hingabe der Anwohner:innen zu ihrem Fluss ist groß.
Zwar durchfließt die Tara eine Jahrtausende alte Kulturlandschaft, aber die Industriebauten verschwinden nur selten aus dem Panorama. Ganz in der Nähe, kurz bevor der Fluss das Meer erreicht, liegt ein Problem-Dauerbrenner Apuliens: das Stahlwerk Ilva, das immer wieder wegen der Einleitung von Giftstoffen in die Gewässer um Taranto Schlagzeilen machte. Während Sattel und Bertin dem Fluss in die Stadt folgen, wandeln sich entsprechend auch die Erzählungen der Anwohner:innen.
Kurz vor Taranto hat das Ilva Industriemüll aufgeschüttet, und der Regen spült die Rückstände nun quer durchs Tal. Ein ehemaliger Arbeiter berichtet, wie sich seine Freude über den Job im Stahlwerk von einem Traum in einen Albtraum verwandelte, als Kollegen um ihn herum zu sterben begannen. Neben den Arbeitsunfällen, der morte bianca, dem weißen Tod, wie man in Italien sagt, waren es immer wieder auch Schadstoffe und fehlende Sicherheitsvorkehrungen, die Arbeiter:innen und Anwohner:innen mit dem Leben bezahlten. Das Stahlwerk, das einst als Verheißung von Arbeit und Moderne gefeiert wurde, ist längst zum Mahnmal einer ganzen Stadt geworden.
Apulien galt mal als Hoffnungsregion
2012/13 thematisierten die Dokumentarfilmerinnen Cecilia Mangini und Mariangela Barbanente die fortwährende Umweltzerstörung um Taranto und Brindisi schon einmal. In „In viaggio con Cecilia“ besuchten sie die Orte, an denen Mangini in Filmen aus den 1960er und 1970er Jahre auf die Lebenswirklichkeiten in den beiden apulischen Industriezentren hingewiesen hatte.
Während „In viaggio con Cecilia“ die nicht enden wollende Reihe von Umweltdramen in den Fokus rückt, blicken Sattel und Bertin immer wieder auch auf die Initiativen von Anwohner:innen und deren Versuche, das Leben in der Region zu verbessern. Ende der 2000er Jahre galt Apulien als Hoffnungsregion in Süditalien. Der progressive Regionalpräsident Nichi Vendola schien nach langem Stillstand Dinge in Bewegung zu bringen.Der Schwung scheint unterdessen nachzulassen.
„Tara“ zeigt nun ein durchwachsenes Bild. Sattel und Bertin würdigen die scheinbar unverwüstliche Schönheit der Region um Taranto und zeigen zugleich die Altlasten, die die Gegend verseuchen. Vor allem in den Momenten des Films, die sich der Tara widmen, finden sie Bilder, die diesen Zwiespalt sichtbar werden lassen. Nach dem Besuch im Labor, das eine gerade noch vertretbare Wasserqualität des Flusses konstatiert, wirken die Pflanzen unter Wasser gar nicht mehr so grün und vital, wie noch zu Beginn des Films.
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