Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (72): Goldzähne und schlaflose Nächte

4. 10. 2022

Ich schlafe seit Monaten schlecht, bleibe aber optimistisch und hoffe, irgendwann klappt es wieder. Die Tabletten wirken entweder gar nicht oder so gut, dass ich am nächsten Tag noch stundenlang nicht wach werde. Mit geschlossenen Augen Schafe oder Schiffe zu zählen, hat noch nie etwas gebracht. Vor einem Monat bin ich, ohne es geplant zu haben, beim Podcast-Hören eingeschlafen – das hat mir Hoffnung gegeben.

Gleich am nächsten Tag probierte ich es wieder, diesmal leider ohne Erfolg, ich musste über die Dinge nachdenken, die ich hörte, und konnte deswegen nicht abschalten. Aber mit einer monotonen, etwas erzählenden Stimme wollte ich nicht so leicht aufgeben, deswegen mache ich damit konsequent weiter, aber die Podcasts, die bei mir jetzt nachts laufen, sind auf Spanisch oder Französisch, die Sprachen, die ich nicht verstehe.

Heute hat aber leider nichts funktioniert, auch die Youtube-Videos vom Regen im Dschungel nicht. Was macht man um drei Uhr nachts, wenn man nicht schlafen kann? Ich bin im Bett geblieben, aufstehen und frühstücken wollte ich doch noch nicht, ich überlegte, ob ich meine E-Mails beantworten oder ein Buch lesen sollte, jedoch mich zu konzentrieren fiel mir schwer. Dann wechselte ich zu Facebook.

Normalerweise achte ich darauf, Nachrichten aus Russland zu ignorieren.

Yuriy Gurzhy

Einige meiner Freunde regen sich seit Tagen über die Rede Iwan Ochlobystins auf, die er letzte Woche kurz nach der Annexion der vier ukrainischen Gebiete auf dem Roten Platz hielt. Normalerweise achte ich darauf, Nachrichten aus Russland zu ignorieren, doch konnte ich nicht widerstehen.

Es ist zwar lange her, aber es gab mal eine Zeit, wo ich Ochlobystin interessant fand – ein Schauspieler und Regisseur, ein Exzentriker. In den frühen 2000ern war er omnipräsent und machte bei ein paar tollen alternativen Filmen mit. Er wirkte, als ob er ständig unter Drogen gewesen wäre, sagte paradoxale Sachen und war gerade deswegen sehr unterhaltsam.

Dann kam die Nachricht, dass er sich zurückzog und Priester wurde – im Dorf, wo er nun mit seiner Familie lebte. Und plötzlich tauchte er 2014 wieder auf, diesmal als Propagandist des Kremls, der den Angriff Russlands zum Heiligen Krieg erklärte und fröhlich die Apokalypse voraussagte. Dabei hat er sich in seiner Art überhaupt nicht verändert, man wusste nie, ob er ernst meinte, was er sagte.

Die Bilder wirken so surreal, dass ich hängen bleibe.

Yuriy Gurzhy

Auf Youtube lässt sich das Video binnen weniger Sekunden finden, jedoch muss ich feststellen, dass die Rede Ochlobystins nur ein Teil eines großen Konzertes mit dem Titel „Für immer zusammen“ war, das am 30. September in Moskau stattfand. Die Bilder wirken so surreal, dass ich hängen bleibe.

Viele der auftretenden Künstler kenne ich, manche sind wahre Veteranen, noch aus meiner Zeit in der Ukraine, also vor 1995 – zum Beispiel Ljube, die Lieblingsband von Putin, die sich auf epischen, patriotischen Kriegspop spezialisiert. Auch Oleg Gazmanov ist da. Obwohl ich vieles vergessen habe, ist mir peinlicherweise ausgerechnet „Lucy“ in Erinnerung geblieben, ein Lied über ein Hündchen, das seinen Sohn Rodion in den späten Achtzigern zum Star machte. Wenige Monate nach dem Erfolg des Sohnes war der Vater dran, er sang auch über die Tiere, aber anders – in seinem ersten Hit ging es um einen Kommandanten, der sein Pferd erschießen musste.

Als danach Putin die Bühne betritt und über den großen Tag in der Geschichte Russlands spricht, schalte ich auf Facebook um und sehe plötzlich ein Foto, das mir kurz den Atem raubt. Eine Schachtel voll mit goldenen Zähnen, die in einer Folterkammer in einem der vor wenigen Tagen befreiten Dörfern der Region Charkiw gefunden wurde. Solche Bilder kennt man aus dem Zweiten Weltkrieg, es ist so schwer zu fassen, dass es heute gemacht wurde – und doch ist es wahr …

Im Hintergrund läuft Putins Rede weiter und ich wünsche, dass die ganze Welt sie genauso erlebt wie ich gerade. Statt der festlich dekorierten Bühne sollte man nur diese Schachtel mit goldenen Zähnen sehen. Nur sie.

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