Sanddüne im Hamburger Bahnhof: Für diese Strukturen braucht man weder Chef, noch Gott

In unserer Umgebung gibt es jede Menge selbstorganisierende Systeme, die eigene, stabile Strukturen hervorbringen. Fischschwärme sind ein Beispiel oder Vogelformationen am Himmel.

Aber auch Muster, die sich aufgrund chemischer Reaktionen bilden. Solche Prozesse, ohne Chef, ohne Gott, interessieren die bildende Künstlerin Alexandra Pirici.

Die in Bukarest geborene Künstlerin und ausgebildete Tänzerin lässt in ihren Werken Performer auftreten, Bewegung und Körper dienen ihr dazu, Festgewordenes wieder ins Fließen zu bringen, sei es Geschichte, Wissen, Erinnerungen. Dafür hat sie sich im internationalen Kunstbetrieb einen Namen gemacht, war bereits zweimal bei der Venedig Biennale dabei.

Im Hamburger Bahnhof hat Pirici nun die historische Halle in eine Landschaft verwandelt, die, anders als herkömmliche Ausstellungen, niemals ganz statisch ist. Sie rieselt, schwingt und singt.

Sanddünen zählen zu den berühmtesten Beispielen für dynamische, sich selbst organisierende Muster.
Sanddünen zählen zu den berühmtesten Beispielen für dynamische, sich selbst organisierende Muster.

© dpa/GERD ROTH

Live-Performance und Gesang

In der Halle ist ein großer Haufen feinen Sandes aufgeschüttet, eine Düne, die sich rund um einen der Eisenpfeiler in dem ehemaligen Bahnhofsgebäude aus dem 19. Jahrhundert auftürmt. Auch eine Gruppe von Performern tritt auf, vier Stunden pro Tag, über die gesamte Ausstellungsdauer hinweg.

Ein irrer Personalaufwand, den sich das Museum nur erlauben kann, weil Bundeskulturstiftung und ein Schweizer Uhrenhersteller mitzahlen. Wie Arbeit und Kooperation organisiert werden, sind im weiteren Sinne auch Themen dieser Ausstellung.

Detail eines chemischen Gartens. Die Strukturen ähneln lebenden Organismen wie Korallen oder Pflanzen, sind aber völlig unbelebt.
Detail eines chemischen Gartens. Die Strukturen ähneln lebenden Organismen wie Korallen oder Pflanzen, sind aber völlig unbelebt.

© Edi Constantin

Es ist das größte Projekt, das Pirici je realisiert hat. Zum ersten Mal hat sie auch skulpturale Objekte bauen lassen. An einem der Eisenpfeiler windet sich ein metallenes Gestänge nach oben, von dem verschiedenen Glaskolben herabhängen. Im Inneren der Zylinder laufen chemische Reaktionen ab. Metallsalze werden in eine Flüssigkeit gepumpt, Strukturen wachsen, Farben bilden sich.

Diese „chemischen Gärten“ sind nicht nur faszinierend, sie gehören zu den ältesten Forschungsgegenständen der Chemie, lernt man hier. Wissenschaftler studieren seit dem 17. Jahrhundert die Strukturen, die diese unbelebte Materie ausbildet, um das biologische Wachstum zu verstehen.

Zwischen zwei Zuständen

Ein schöner Moment: eine Performerin singt zu einem der Glaskolben hinauf, in ihn strömen drei Flüssigkeiten ein, die Mischung wird golden, dann violett, dann wieder golden. Wie ein Zaubertrick sieht es aus. Briggs-Rauscher-Reaktion heißt das Experiment.

Die Künstlerin hat es in gemeinsamer Arbeit mit Wissenschaftlern automatisiert und vergrößert. Die notwenigen Apparate stehen sichtbar im Raum. Die Entstehung sechseckiger Bénard-Zellen, Liesegangscher Ringe, von Blütenplättern, Sanddünen und Turing-Mustern, all das kann man in der Halle an verschiedenen Stationen wahrnehmen. Wenn man Muse hat, und den Kopf nicht zu voll.

Gleichzeitig rauschen Blutkörperchen durch die Körper der menschlichen Performer, formieren sich Atome, Moleküle und Zellen zu Haut und Haar, strömt deren Atemluft durch die Gegend, wenn sie polyfone Choräle singen oder Texte sprechen.

Für Pirici ist alles Materielle aus demselben Stoff: der Mensch, der Stein, die Kristallformation, das Sandkorn. „Wir sind nur unterschiedliche Materialkonstellation“, sagt sie. Es ist inspirierend, sich das vorzustellen. Ein Kontinuum der Teilchen, belebte und unbelebte Materie sind eins.

Beim Besuch funken die eigenen Gedanken allerdings ständig dazwischen. Ganz so wild und frei wie chemische und biologische Prozesse kommen einem die Formationen und Bewegungen der 13 Tänzer und Tänzerinnen nicht vor. Es gibt ein Set an Gesten, Zeichen, Sounds. Irgendwo verbirgt sich eine Struktur, die eine Stunde und zehn Minuten lang ist und die sich dreimal wiederholt, verrät die Künstlerin.

Interessant wird es, wenn man diese chemischen Gärten, die konzentrischen Kreise und rutschenden Sandkörner, die Bewegungen der Tänzer, die in der Halle doch nur nebeneinander ablaufen, auf die Organisation des Museums überträgt. Standardisierte Arbeitsteilungen im Museum könnten transformiert werden, die Erkenntnis könnte sich ausbreiten, dass Offenheit ein gutes Organisationsprinzip ist. Man wird diese Dinge im Ausstellungsraum nicht immer gleichermaßen stark fühlen können. Imagination ist gefragt. Frustration nicht ausgeschlossen.

Es sind so ernste Zeiten im Moment, Poesie und Verzauberung stellen wichtige Gegenpole dar. Das beste an dieser Ausstellung ist vielleicht, dass in den nächsten Monaten ständig jemand anwesend sein wird, singend, tanzend, redend.