Radio Ukraine

1. Juni 2022

Während meiner Schulzeit fand ich die Auswahl der Werke ukrainischer Autor*innen im Literaturunterricht immer sehr problematisch. Es war eine Art literarische Diät, was mir als Kind nicht bewusst war. Aber es hat mich gewundert, dass es so gut wie immer um das harte Leben der ukrainischen Bauern vor der Revolution ging – und dann darum, wie sich ihre Lage nach 1917 verbessert hat.

Ich fragte mich, wo alle coolen Romantiker, Futuristen, Avantgardisten geblieben waren. Denn auch die Schullektüre, die im 20. Jahrhundert geschrieben worden war, wirkte langweilig und leblos. Uns wurde im Literaturunterricht nicht erzählt, dass fast die gesamte Generation der Autor*innen, die in den 1920ern aktiv war, vernichtet worden war. Überlebt haben nur diejenigen, die bereit waren, ausschließlich darüber zu berichten, wie wohl sich die Ukrainer*innen in der großen sowjetischen Völkerfamilie fühlten.

Wir haben mit einem Song mehr als 1000 Euro an Spenden gesammelt

Anfang der 2000er, als ich nach ein paar Jahren Pause wieder in Charkiw war und einen Buchladen besuchte, war ich überrascht, plötzlich die Buchcover von neuen ukrainischen Autor*innen zu sehen. Sie waren bunt und funky, sahen völlig anders aus als die ukrainischen Bücher, die ich bis dahin kannte.

Ich habe mir drei gekauft und sie auf meiner Zugreise nach Berlin gelesen, zwei von Serhij Zhadan und eins von Irena Karpa. Ich war wie euphorisiert – endlich hatte ich Menschen meines Alters gefunden, die über unsere Zeitgenossen schrieben, und zwar in einer Sprache, die ich verstehen konnte, die ich in der Schule gelernt habe – aber es war doch eine andere, neue Sprache, die Sprache der neuen Ukraine, und ich habe mich in diese Sprache durch die Literatur verliebt.

Bei jedem Ukraine-Besuch kaufte ich neue Bücher, und ich weiß noch genau, wie ein Freund aus Iwano-Frankiwsk mir die Werke von Tanja Maljartschuk empfohlen hat. Tanja schreibt auf Ukrainisch, aber auch auf Deutsch, sie lebt in Wien und ist am Sonntag nach Freiburg gereist, um bei unserer Theaterveranstaltung vorzulesen.

Lesungen, Gespräche und Musik – in einer Radiosendung passen sie oft gut zusammen, auf einer Bühne ist diese Kombination aber eher ungewöhnlich, und so einigten wir uns nach langen Überlegungen mit den Kurator*innen auf den Titel „Radio Ukraine“ für unser Event. Es war ein langer, oft emotional schwieriger, aber auch ein sehr schöner Abend.

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Unausgeschlafen, aber zufrieden fahre ich am nächsten Morgen im überfüllten ICE zurück nach Berlin. Ich schaue in meinen Kalender und merke, dass eine musikalische Woche ansteht. Mit dem Projekt The Anti-DicKtators nehme ich einen neuen Song auf. Unser erster, „Russian Warship, Go Fuck Yourself!“, hat über 1000 Euro an Spenden generiert –, eine gute Motivation, weiter zu machen!

Im neuen Lied geht es ums Zuhause – ein Thema, zu dem jedem Ukrainer heute einiges einfällt. Viele haben ihr Zuhause verloren und mussten fliehen, die Anderen kämpfen gegen die russischen Eindringlinge mit einem Gewehr in der Hand – für ihr Zuhause, für das Recht, in eigener Heimat leben zu dürfen.

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Der Text für „Home“ ist fertig und bereits eingesungen, aber ich habe das Gefühl, dass der Song noch nicht komplett ist, und möchte neben den Stimmen von Katya Tasheva und mir gern eine andere hören, die direkt aus der Ukraine kommt.

Ich denke an Diana Berg, eine liebe Freundin, die ich vor sechs Jahren in ihrem Club in Mariupol kennenlernen durfte, als sie dort mein Konzert veranstaltete. Ich habe neulich auf Facebook gesehen, dass sie in Kanada aufgetreten ist und schreibe sie an mit der Bitte, mir ein paar ihrer Gedanken als Audionachricht zu schicken. Diana meldet sich sofort zurück – sie ist gerade aus Montreal nach Berlin gekommen, in einigen Tagen geht es weiter in die Ukraine.

Ich lade sie zu mir ein. Wir essen Kuchen und trinken Kaffee auf dem Balkon, sie zeigt mir Fotos und Videos aus Kanada. Sie konnte sich dort endlich entspannen. „So eine Erleichterung, zu spüren, dass dich hier keine Rakete plötzlich töten kann!“, sagt sie und lacht.

Wir gehen ins Musikzimmer um aufzunehmen. „Ich habe mein Zuhause bereits zweimal verloren,“ sagt Diana ins Mikro. „Einmal Donetsk, jetzt auch Mariupol. Alles, was mir geblieben ist, sind die Schlüssel von meinen beiden Wohnungen und die Erinnerungen. Mein Leben wurde wieder zerstört, ich muss von Null anfangen und ich habe Angst, denn ich weiß, dass jedes Zuhause vernichtet werden kann“. Mir fällt auf, dass ich das Mikro nicht ganz richtig eingestellt habe, aber ich traue mich nicht, sie zu bitten, den Text zu wiederholen.
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