Ausgrabungsarbeiten in Wannsee
Die Vergangenheit ist nicht unbedingt größer als die Gegenwart. In der Erinnerung erscheint sie nur gerne so. Insbesondere wer sie schreibend einholt, kann ihr eine Lebendigkeit verleihen, die ihr gegenüber der Offenheit der Gegenwart eine trügerische Attraktivität verleiht. Was für ein Abenteuer muss es gewesen sein, als der 22-jährige Student und Lyrikaspirant Friedrich Christian Delius Anfang 1965 von SFB und NDR beauftragt wurde, W.H. Audens Gedicht „Night Mail“ zu übersetzen. In der gleichnamigen Filmproduktion des britischen General Post Office, einer poetisch-essayistischen Dokumentation mit Klassikerstatus, hatte es Kameramann Pat Jackson 1936 zur Musik von Benjamin Britten hochrhythmisch vorgetragen, ja fast gesungen.
Unter dem Titel „Wie ich zum ersten deutschen Rapper wurde – ohne es zu merken“, der sich nach Ansicht des „Night Mail“-Originals auf YouTube sofort erschließt, erzählt Delius in „Sprache im technischen Zeitalter“ (Heft 238, Böhlau Verlag, www.spritz.de) mit ironischer Gelassenheit, wie überfordert er damals war: Das Corpus delicti ist beigefügt. Er verrät aber auch, dass ihn das fürstliche Honorar von 700 Mark bei der Stange hielt. In mancher Hinsicht ist die Gegenwart eben doch enttäuschend.
Auf halbem Weg berichtet Delius von einer persönlichen Begegnung mit W.H. Auden – auf ehrfürchtigem Abstand. Im Herbst war dieser als Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms mehrfach im Oberseminar von Walter Höllerer an der Technischen Universität zu Gast. Delius’ Miszelle, die nur darin irrt, Auden selbst zum „Night Mail“-Rezitator zu erklären, ist ein herausragendes Beispiel für die „Zeitmitschriften“, die sich die von Thomas Geiger verantwortete Zeitschrift zum 60. Geburtstag gönnt.
Was als wissenschaftliches Beiboot von Höllerers Institut für Sprache im technischen Zeitalter begann, wurde bald zum publizistischen Hauptschiff des gleichfalls von ihm begründeten Literarischen Colloquiums Berlin (LCB). In dieser Ausgabe rücken die Sechziger, Siebziger und Achtziger (im Herbst folgen die drei übrigen Jahrzehnte) ganz nah heran. Dabei fand das literarische Leben im Mauerberlin nicht nur in einer anderen Welt, sondern regelrecht auf einem anderen Planeten statt. Wolfgang Ramsbotts 1971 vom LCB produzierter Film „Das literarische Profil von Berlin“, ein hinreißendes Zeugnis jener Zeit, vermittelt einen deutlich weniger sentimentalen Eindruck als die hier versammelten Texte. Aber das spricht nur für ihren teils hochpersönlichen Ton.
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Michael Krüger führt durch das Wannsee seiner Jugend – auch als später Liebesbrief an eine französische Austauschschülerin, die er, klein, wie sie war, La Microbe nannte. Ursula Krechel wandelt auf den Spuren eines großschriftstellerischen Friedenau. Gert Loschütz rekapituliert seinen Umzug nach Kreuzberg. Und Antonio Skármeta lässt das anarchistische Wohngemeinschaftswesen rund um den Zwiebelfisch am Savignyplatz aufleben. Bei Zsuzsanna Gahse fällt ein schönes Wort, das den Geist dieser Stücke zusammenfasst: Allzeitgegenwart.