Primal Scream und die Rave-o-lution
In der Erinnerung verhält sich bekanntermaßen alles immer ein bisschen anders, als es sich tatsächlich zutrug – und doch sei an dieser Stelle die leicht ketzerische Frage gestellt: War 1991 wirklich so ein ultimatives Rockjahr? Hatte es sich in diesem Jahr nicht schon wieder ausgerockt?
Ich weiß noch, dass ich genug von US-Labels wie SST, Homestead oder SupPop hatte; oder von einer Band wie Dinosaur jr., die nach ihren Rock-Meilensteinen „You’re Living All Over Me“ von 1987 und „Bug“ ein Jahr später sowie dem Ausstieg ihres so wichtigen Bassisten Lou Barlow 1991 mit „Green Mind“ ein eher müdes Album veröffentlichten, fast ein Corporate-Rockalbum, was ja laut einer beliebten SST-Maßregel verpönt war.
Außerdem tat sich in England, im Mutterland des Pop, nach einer Phase der Depression und viel zu vielen an den sechziger Jahren orientierten Gitarrenbands wieder einiges.
Mit “Loaded” ging es 1990 schon los
Bands wie die Stones Roses oder die Happy Mondays hatten die „Rave-o-lution“ ausgerufen, hatten sich mit Beginn des neuen Jahrzehnts Beats unter ihre Gitarrensounds legen lassen, man denke auch an „I’m free“ von den Soup Dragons!, und ganz England tanzte zu der Musik von Gruppen, die kurz zuvor nur was für introvertierte Eckensteher mit Pilzkopf und Paisley-Hemd war.
Auch Primal Scream gehörten zu diesen nicht weiter aufregenden Bands – bis ihnen der DJ Andrew Wheatherall Anfang 1990 einen alten Song remixte und aus „I’m Losing More Than I’ll Ever Have“ das mit allerlei Drum-Loops und Samples versehene Tanzstück „Loaded“ wurde.
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„Loaded“ war das Versprechen, das die nächste Primal-Scream-Single „Come Together“ einlöste, und so wartete die ganze Popwelt 1991 auf das neue, dritte Album von Primal Scream, „Screamadelica“. Als es herauskam, kannte man es zwar fast schon zur Hälfte, auch Stücke wie das herrlich psychedelisch-verwehte „Higher Than The Sun“ und der programmatische Stampfer „Don’t Fight It, Feel It“ waren vorab ausgekoppelt worden.
Trotzdem hatte beispielsweise die „Spex“ das Album, obwohl es im selben Monat wie Nirvanas „Nevermind“ veröffentlicht wurde, zum Album des Monats gemacht. In Form gebracht von Andrew Wheaterall, Hugo Nicolson und dem einstigen Stones-Produzenten Jimmy Miller sowie einschlägig bekannten Electronic-Acts wie The Orb oder Hypnotone, entwickelte sich „Screamadelica“ zum im Nachhinein vielleicht strahlendsten, legendärsten, prägendsten Alben der Rave-o-lution.
“Screamadelica“ klingt selbst wie ein Sampler
Und Rock? Aber ja! Nicht zu knapp gab es den hier, nicht nur zu Beginn, in „Movin’ on Up“, zu dessen wunderbaren Groove immer mal wieder eine Knarzgitarre und Gillespies’ Blues- und Mick-Jagger orientierter Gesang zwischenfunken.
Auch „Slip Inside The House“, „Inner Flight“ oder „Shine Like Stars“ können und sollen die Beach-Boys-, Velvet-Underground, Stones- und psychedelischen Detroit-Rock-Einflüsse nicht leugnen. Überall fiept und jault es, gibt es hier noch ein Sample, dort einen Beat. In seiner Gesamtheit klingt „Screamadelica“ selbst wie ein Sampler, auf dem Bobby Gillespie, Andrew Wetherall und Miller ihre All-Time-Favorites versammelt haben.
Ob sie ahnten, dass sie einen Klassiker produziert hatten, ein Album, dass auch dreißig Jahre nach seiner Veröffentlichung noch aufregend, frisch und zeitgemäß klingt? Vermutlich ahnte es zumindest die Band, ihr Mastermind Bobby Gillespie.
Der Nachfolger von „Screamadelica“, 1994 erschienen, „Give Out But Don’t Give Up“, ist ein ordentlich von den Stones und vom Southern-Rock beeinflusstes Album mit Südstaaten-Flagge auf dem Cover. Der beste Song darauf heißt: „Rocks“.