Aus dem Proustbetrieb: Der Schlag der Drossel

Wer die Bücher der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux schätzt, dürfte auch den einen oder anderen Roman von Édouard Louis gelesen haben (oder umgekehrt); und wer das Werk von Marcel Proust mag, hat sicherlich manches Buch von Flaubert, Balzac oder Stendhal gelesen.

Beim Ton von Chateuabriand spürt man wirklich, was ein Dichter ist

Marcel Proust

Aber auch François-René de Chateaubriand? Zum Beispiel die Erinnerungen des 1768 geborenen und 1848 gestorbenen französischen Politikers, Offiziers und Schriftstellers, die „Erinnerungen von jenseits des Grabes“, wie die „Mémoires d’outre-tombe“ auf Deutsch heißen?

Proust erwähnt Chateaubriand in seiner „Recherche“ nicht nur einmal. Angetan hat es ihm besonders die Stelle aus dessen Erinnerungen, an der es um den Gesang einer Drossel geht. Diesen Gesang hört Chateaubriand im hohen Alter, für ihn ist es ein magischer Klang. Die Drossel ruft ihm den Ort seiner Kindheit in Erinnerung, das bretonische Combourg, wo er als jüngstes von zehn Kindern auf einem Schloss aufgewachsen ist: „Ich wurde aus meinem Nachdenken durch den Schlag einer Drossel geholt, die auf dem höchsten Ast einer Birke saß. Im gleichen Augenblick ließ dieser zauberische Ton vor meinen Augen das väterliche Besitztum erstehen.“

Es geht um die Überwindung des Todes

Der „Schlag“ der Drossel, später „ein feiner, süßer Duft von Heliotrop“, der aus „einem kleinen Acker mit blühenden Bohnen“ kommt, haben natürlich dieselbe Funktion wie für Proust die in eine Tasse Tee getauchte Madeleine. Oder andere Trigger der unwillkürlichen Erinnerung beim Erzähler der „Recherche“: die Steifheit der Serviette, der Löffel, der gegen einen Teller schlägt, die ungleichen Pflastersteine im Hof der Guermantes.

Proust erwähnt Chateaubriand das erste Mal in der „Recherche“ im zweiten Band, in „Im Schatten junger Mädchenblüte“. Hier bezeichnet ihn der Erzähler in Balbec gegenüber der Bekannten seiner Großmutter, der Madame de Villeparisis, als „genial“. Was diese jedoch einfach nur abtut, auch weil sie ihn als junges Mädchen noch persönlich gekannt hat. Viel später, in „Die wiedergefundene Zeit“, zitiert Proust „den schönsten Teil“ aus den „Mémoires d’outre-tombe“, um seine Madeleine-Empfindungen nachvollziehen zu können, um überhaupt seine gesamte Erinnerungs- und Kunsttheorie daraus zu entwickeln.

Die Basis ist in seinem Prosaessay „Gegen Saint-Beuve“ zu finden, genauso in seinem nicht vollendeten Romanprojekt „Jean Santeuil“, auch ein Pastiche hat er begonnen, aber nicht fertig geschrieben. In Prousts Nachlass fand sich überdies eine längere Notiz über Chateaubriand. In dieser heißt es: „Ich liebe es, Chateaubriand zu lesen, weil er alle zwei bis drei Seiten (wie man nach einem Intervall von Stille in den Sommernächten die beiden Töne hört, immer die gleichen, die den Gesang des Käuzchens bilden) den ihm eigenen Ruf erklingen lässt, ebenso monoton, doch genauso unnachahmlich, und man darin wirklich spürt, was ein Dichter ist.“

Für Proust kamen die eigenen Erinnerungsepiphanien und das Schreiben darüber einer Überwindung des Todes gleich. Chateaubriand beschreibt er als Schriftsteller, der „der wunderbaren und transzendenten Person, die er ist, freien Lauf lässt.“ Von einem Leben, in dem man nicht sterbe, habe Chateaubriand berichtet. Nichts anderes hat Marcel Proust mit seiner „Recherche“ versucht.

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