Ukrainisches Kriegstagebuch (172): Mein letzter Besuch im Nachbarland
26.9.2023
Im Juni 2013 flog ich mit meiner Band nach russland, wo wir in Perm am Weißen Nächte-Festival teilnahmen, das neben Musik auch zahlreiche Performances, Workshops und mehrere Ausstellungen bot.
Ich muss zugeben, dass ich damals ein ungutes Gefühl hatte – nur ein halbes Jahr zuvor waren die Mitglieder von Pussy Riot angeklagt worden. Diese jungen Künstlerinnen hatten ein Punk-Gebet in einer Moskauer Kathedrale aufgeführt und wurden trotz der zahlreichen Proteste und der Unterstützung von Prominenten wie Madonna oder Paul McCartney zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt.
Das weltweite Interesse am Fall Pussy Riot wurde maßgeblich durch das Engagement von Alexander Cheparukhin geweckt. Dank seiner persönlichen Beziehungen zu einigen international renommierten Künstlerinnen und Künstlern gelang es ihm, Aufmerksamkeit auf diese Geschichte zu lenken. Was folgte, waren offene Briefe an die inhaftierten Künstlerinnen und Aufrufe für ihre Freilassung von Peter Gabriel, Billy Bragg und vielen anderen.
Cheparukhin ist ein visionärer Konzertveranstalter, der sich nicht nur einen Ruf erarbeitet hat, zahlreiche Musikstars nach russland zu bringen, sondern sie auch oft an entlegenen Orten des Landes in ungewöhnlichen Konstellationen auftreten ließ.
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Auf den Festivals der frühen 2000ern, bei denen Alexander für das Programm zuständig war, war nahezu alles denkbar. Bis heute sind auf YouTube faszinierende Videos aus dieser Ära zu finden. In einem davon, aufgenommen während eines Festivalauftritts der amerikanischen Band Gogol Bordello in Kasan, sieht man den damaligen Präsidenten Russlands, Dmitri Medwedew, wie er versucht, sich zur Musik zu bewegen. In seiner Nähe tanzen Musiker einer afrikanischen Band, gemeinsam erzeugen sie ein äußerst surreales Bild.
Auf einem anderen Video vom gleichen Festival teilt Patti Smith die Bühne mit den russischen Rock’n’Roll-Dinosauriern Mashina Vremeni und einem bunten Haufen Musikerkolleg*innen, unter denen man Keith Emerson, Adrian Belew, die Mitglieder von Fairport Convention und Dakha Brakha erkennen kann. Im Himmel entfalten sich atemberaubende Feuerwerke, während die Musiker*innen „All You Need Is Love“ singen.
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Die Einladung an RotFront, in Perm aufzutreten, kam ebenfalls durch Cheparukhin zustande. Ich war überrascht, muss jedoch gestehen, dass es auf gewisse Weise zu meiner Vorstellung davon passte, wie die Dinge in russland funktionieren – ein riesiges Land mit Parallelwelten und einem großen Chaos. Dennoch war es seltsam, dass jemand, der öffentlich eine kontroverse oppositionelle Künstlergruppe unterstützte, gleichzeitig große Festivals organisierte, die höchstwahrscheinlich aus staatlichen Mitteln finanziert wurden.
Als wir uns in Perm mit Alexander trafen, erfuhr ich die Wahrheit. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits alle seine Jobs verloren, einschließlich der Programmgestaltung der Weißen Nächte. Er schien ziemlich mitgenommen von der ganzen Situation und überlegte, womit er nun seinen Lebensunterhalt verdienen sollte.
Kurz vor unserem Auftritt erzählte mir ein Bekannter, der eine israelische Jazzband zum selben Festival nach Perm gebracht hatte, von einer geplanten Ausstellungseröffnung, die genau während unserer Bühnenzeit stattfinden sollte. Im Jahr 2014 sollte in Sotschi die olympischen Winter-Spiele stattfinden, und dieser Anlass inspirierte den Künstler Wassili Slonow dazu, eine Serie satirischer Plakate zu gestalten, die die Olympiagäste humorvoll begrüßen sollten.
Im Internet waren einige der neuesten Arbeiten Slonows im Umlauf, die alle mit dem Schriftzug „Welcome to Sochi 2014“ versehen waren. Auf einem dieser Werke waren die olympischen Ringe aus Stacheldraht dargestellt, während auf einem anderen ein weißes Bärchen mit dem Gesicht von Stalin zu sehen war. Ich versprach, direkt nach unserem Konzert zur Vernissage zu kommen. Neunzig Minuten später war ich da – und stand vor verschlossenen Türen. Die Ausstellung wurde von den örtlichen Behörden zugemacht.
Mein Bild von russland war offensichtlich falsch. Das repressive System funktionierte äußerst effektiv, und die Opposition wurde konsequent unterdrückt und zerstört. Beim Rückflug nach Berlin verspürte ich eine enorme Erleichterung. Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, und nach wie vor kann ich mir nicht vorstellen, erneut nach russland zu reisen.