Wo die Linien tanzen
Wenn man sich in einer Ausstellung dabei ertappt, plötzlich Fragen mit besonderer Dringlichkeit zu stellen, die einem sonst eher nicht durch den Kopf spuken, dann hat sie einiges richtig gemacht. Im Zentrum für Aktuelle Kunst, kurz ZAK, sind das derzeit Fragen wie: Was ist das eigentlich, eine Zeichnung?
Angesichts der Vielgestaltigkeit des Mediums, wie sie die Schau „Über die Zeichnung hinaus“ vor Augen führt, möchte man möglichst allgemein antworten: Irgendetwas, das zwischen Kopf, Auge, Hand und dem Blatt Papier passiert, das vor dem Künstler oder der Künstlerin liegt. Wobei dieses Blatt Papier längst auch ein leuchtend weißer Computer-Screen sein kann.
Ausschnitt und Querschnitt
Doch am Ende der Schau in der Zitadelle Spandau stellt man nicht nur Fragen, man staunt auch: Derart viele verschiedene Ansätze zum Thema Zeichnung, alle von Kunstschaffenden aus Berlin. Doch so umfangreich der Ausschnitt auch geraten ist, der im ZAK gezeigt wird, bleibt er doch genau das: ein Ausschnitt. Einer, der hemmungslos subjektiv von zwei Künstler:innen ausgewählt wurde. Matthias Beckmann und Katja Pudor, selbst mit Arbeiten vertreten, sind von der Galerie damit beauftragt worden, einen Querschnitt zusammenzustellen: Wie interpretieren und nutzen Kunstschaffende aktuell das Medium Zeichnung?
Als kommunale Galerie will das ZAK die Arbeiten nicht verkaufen. Vielmehr geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie vielfältig Zeichnung sein kann und wie durchlässig die Außenbereiche des Mediums sind. Die Kurator:innen durchbrechen wissentlich und lustvoll die Grenzen, in die man den Begriff intuitiv einhegen möchte. Tatsächlich steht man in jedem der weitläufigen Räume Werken gegenüber, die man nicht in einer Zeichnungsausstellung erwartet hätte. So wird auch eine andere Frage, die Beckmann und Pudor entschlossen beschwören, zur hartnäckigen Begleiterin: „Ist das noch Zeichnung?“
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Sie führen die Perspektiven mehrerer Generationen zusammen: Manche der mehr als 40 Ausstellenden sind Ende dreißig, andere schon Anfang siebzig, die Arbeiten wiederum größtenteils jüngeren Datums. Die meisten stammen aus den vergangenen zwei, drei Jahren. Sie illustrieren, wie unterschiedlich die Mittel sind, mit denen die Hände der Künstler:innen eine Zeichnung erschaffen: vom Bleistift über Kugelschreiber, Pinsel und Kohlestück bis hin zum Cursor auf dem Bildschirm.
Ulrike Mohr abstrahiert in ihrer Arbeit „Slicing Time“ (2016) den Zusammenhang von Zeicheninstrument und Papier gleich ganz. Ein verbrannter Buchen-Ast, in Scheiben zersägt, hängt schwarz im Raum. Wie bei einem Windspiel tanzen die Scheiben sacht im Luftzug. Daneben auf dem Boden: eine rechteckige Ansammlung weißer Kreidesteine, angeordnet in Form eines Blatts Papier. Kohle, Kreide, Papier – die Grundbestandteile des Mediums zurückgeführt auf ihren archaischen Kern.
Doch auch, nun ja, „vertrautere“ zeichnerische Ansätze lassen sich finden. Beckmanns Arbeiten aus der Friedrichwerderschen Kirche beispielsweise. 20 Werke im kleinen Format, die der Künstler und Co-Kurator der Schau 2021 vor Ort, in der Kirche unweit des Humboldt Forums, mit Bleistift auf Papier gezeichnet hat. Die Linienführung ist sicher und zielstrebig, nachträgliche Korrekturen nimmt Beckmann nicht vor. Er erlaubt den Linien aber auch eine gewisse tänzerische Freiheit. Sie zeugen weniger von architektonischer Akkuratesse als von dem Wunsch, ein Gefühl für den beobachteten Raum mit all seinen Überlagerungen und Spiegelungen zu erzeugen.
Inspiration Teppichboden
Die Dramaturgie der Schau mutet willkürlich an. Eine lineare Erzählung wollen Beckmann und Pudor nicht liefern. Stattdessen stellen sie die verschiedenartigen Ansätze nebeneinander, sodass zwischen ihnen Wechselwirkungen entstehen, in die man beim Besuch unvermittelt hineingerät. So nutzt Peter Hock die von Ulrike Mohr emblematisch vorgeführte Kohle – in seinem Fall Reiskohle –, um Strukturen zu Papier zu bringen, die sich förmlich vom Untergrund abzuheben scheinen.
[ZAK – Zentrum für aktuelle Kunst, Am Juliusturm 64, bis 21. August, Fr-Mi 10-17 Uhr, Do 13-20 Uhr]
Sein Werk „Stoff“ von 2020, 2,4 Meter mal 1,5 Meter groß, mutet organisch an, fast wie eine Detailaufnahme von See-Anemonen, wobei es eigentlich von einem Teppichboden inspiriert ist. Hocks Reiskohle-Arbeiten reagieren derart empfindlich auf Berührung, dass sie erst direkt an der Wand im ZAK ausgerollt wurden. Die Galerie hat vor ihnen eine Linie auf dem Boden gezogen, diesmal kein zeichnerischer Akt, vielmehr einer, der die Werke vor übergriffigen Besucher:innen schützen soll.
Andere ausgestellte Stücke sind gleich ganz in der Galerie entstanden. Katja Pudor hat zur Eröffnung gemeinsam mit Manfred Peckl auf gewaltigen, auf dem Boden ausgelegten Blättern Papier performt. Mit ebenso gewaltigen Pinseln sowie Tinte und Tusche sind sie über die Bahnen hergefallen, haben sie bemalt, lautstark geknüllt und förmlich mit ihnen gerungen. Übrig geblieben sind übergroße Papierknäuel, die noch immer zwischen den anderen Ausstellungsstücken auf dem Boden liegen.
Und das soll jetzt noch Zeichnung sein? Da meldet sich der Zweifel wieder zu Wort. Doch es ist Beckmann und Pudor zu verdanken, dass man sich diese Frage weniger mit gerunzelter Stirn als mit einem Lächeln auf den Lippen stellt.