Einer von gestern
Wenn der Wikipedia-Eintrag die zeitgemäße Synopsis eines Lebenswerks darstellt, müssen Leben und Werk von Eckhard Henscheid so unübersichtlich sein, dass der Versuch, Ordnung zu schaffen, aussichtslos ist: Henscheid ist in Amberg geboren, hat in München studiert, danach in Regensburg, Frankfurt am Main, und Arosa (Schweiz) gelebt und wohnt heute in Amberg. Er hat eine Magisterarbeit über Gottfried Keller geschrieben. Er war Mitglied der SPD, Redakteur der Satirezeitschrift „Pardon“ und später der „Titanic“. 1970 nahm er an einer Besetzung des Springerhochhauses in Westberlin teil.
Er wurde von René Böll, dem Sohn von Heinrich, verklagt, weil er dessen Vater in einer Rezension „steindumm“, „kenntnislos“, „talentfrei“ und „korrupt“ genannt hatte, und unterlag 1993 vor Gericht. Charakteristisch für Henscheids Werk ist die Vielzahl der von ihm gepflegten Genres. Seine Romane zeigen Männer in Phasen des psychischen Zerfalls. Das Roman-Subjekt bewegt sich dabei in einer dysfunktionalen Außenwelt. Der Literaturkritiker Gustav Seibt würdigte Henscheids Humor als „Henscheidsche Wende in der deutschen Nachkriegsliteratur“. Der Germanist Gert Ueding nannte Henscheid einen „Klamaukschriftsteller“, Henscheid wandte ein: „Ich bin mehr ein Klimbim- oder auch Krawallschriftsteller.“
Martin Mosebach sagt: „Henscheid ist ein Erdteil.“ Für Martin Walser ist Henscheids 1988 erschienene Idylle „Maria Schnee“ das Buch „mit dem größten mir bekannt gewordenen Atomgewicht“. 1975 zog sich Henscheid von der Mitarbeit bei „Pardon“, 1996 von der Zusammenarbeit mit der „FAZ“, 1999 von der Mitarbeit an der Monatszeitschrift „Konkret“ zurück. Im Jahr 2000 war er Poetik-Dozent in Heidelberg, 2004 unternahm er mit Egon Bahr und dem Schriftsteller Jürgen Roth auf Einladung von Wladimir Putin und Johannes Rau eine Wolgareise.
Heute gilt er als rechts
Weil er der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ zwei Interviews gegeben und 2006 den „Appell für die Pressefreiheit“ gegen den Ausschluss der „Jungen Freiheit“ aus der Leipziger Buchmesse unterschrieben hat, gilt er heute als rechts. Ebenfalls 2006 wurde ihm der Jean-Paul-Preis verliehen. 2013 hat Henscheid unter dem Titel Denkwürdigkeiten eine Autobiographie vorgelegt. Seit dem 3. Juli 2014 ist ein Lokal nach ihm benannt: Das Henscheid in der Mainkurstraße 27 in Frankfurt-Bornheim.
So die Kurzfassung von Henscheids Leben und Wirken auf Wikipedia. Henscheid selbst leitet die Denkwürdigkeiten weniger umwegig mit einem Zitat des satirischen Malers Heino Jaeger ein: „Es würde den Rahmen sprengen, würde ich alles erwähnen.“ Die Metapher des Rahmens, der die Hauptsache nicht rahmt, sondern von ihr überwuchert wird, ist neben dem Jean-Paul-Preis, der zu kaum einem seiner Träger so gut passt wie zu Henscheid, ein Hinweis darauf, warum Henscheids Werk der Gegenwart wie das barocke Relikt einer Epoche der Virtuosität, Eloquenz und Weltgewandtheit erscheinen muss, mit dem das zeitgenössische Publikum nichts anderes anfangen kann, als darüber zu lachen.
Stärker aber als für alle anderen Autoren der Neuen Frankfurter Schule, die Henscheid geprägt hat, gilt für ihn, dass er deshalb so witzig ist, weil er Witz, nämlich Geist hat, welcher der Komik ihren Ernst verleiht. Im Ernst, der auch Henscheids Klimbim und Kalauern innewohnt, im frühromantischen Impuls, Pointe und Ornament, Oberfläche und Tiefe kurzzuschließen, besteht seine Verwandtschaft mit Jean Paul.
Überzeichnung als Würdigung
Seine zwischen 1973 und 1978 erschienene Trilogie des laufenden Schwachsinns, bestehend aus den Romanen „Die Vollidioten“, „Geht in Ordnung – sowieso – genau –“ und „Die Mätresse des Bischofs“ ist nicht einfach eine großangelegte Satire auf das bundesrepublikanische Intellektuellenmilieu der Siebziger, obwohl dessen Protagonisten von Alice Schwarzer bis Max Horkheimer in Henscheids überbordendem Figurenpanorama begegnen. Zugleich war sie wirklich und ernsthaft so etwas wie die Wiederaufnahme von Jean Pauls im „Siebenkäs“ unternommenem Versuch eines nicht-linearen, dissoziativen Entwicklungsromans, dem barocken Gegenentwurf zum bürgerlichen Bildungsroman.
Wie Henscheid nicht einfach von oben herab die pappnasigen Protagonisten eines korrupten Kulturbetriebs karikiert, sondern sie in einer Vielzahl sprachlicher Nach- und Neuschöpfungen lebendig werden lässt, so hat er die Satire stets strenger genommen als diejenigen, die sie als überlegen-ironische Rechtfertigung der Wirklichkeit missbrauchen. Indem er seinen Texten Gattungsbezeichnungen wie „Anekdoten“, „Sudelblätter“, „Glossen“ und „Bagatellen“ gab, zusammen mit F.W. Bernstein einen Literarischen Traum- und Wunschkalender entwarf oder (1982, vor dem Siegeszug politischer Korrektheit) in intertextueller und intellektueller Zusammenarbeit mit Immanuel Kant eine Schrift namens „Der Neger (Negerl)“ publizierte, bediente Henscheid sich literarischer Formen des 18. und 19. Jahrhunderts, die bei Lichtenberg, Kleist, E.T.A Hoffmann oder eben Jean Paul ein freiphantisierendes Korrektiv zum bürgerlichen Roman waren.
Dass diese Formen gerade durch ihre Neigung zur Selbstspiegelung, Groteske und Karikatur das, was sie verspotten, zugleich im Spott zu retten versuchen, lässt sich an dem 1983 erschienenen Prosaband „Wie Max Horkheimer sogar einmal Adorno hereinlegte“ studieren, der „Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach“ versammelt. Diese präsentieren Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Friedrich Pollock und andere Protagonisten des Instituts für Sozialforschung beim Skat, Glückspiel, Saufen und Schmausen und bedienen sich einer Diktion, die die Idiomatik Adornos so liebevoll wie präzise nach- und überzeichnet.
Anders als heutige Jungakademiker glauben, die diese Satiren als Verspottung eines gedrechselten Jargons goutieren, handelt es sich bei dieser Überzeichnung um eine Würdigung, um die Reverenz an Menschen, die von gestern und eben deshalb dem Heute überlegen sind. Als ein solcher sollte auch Eckhard Henscheid zu seinem Achtzigsten gepriesen werden.