Hauptsache, die Kinos sind voll
Cannes und seine Stars, das ist eine Beziehung, die dieses Jahr von Faktoren auf die Probe gestellt wird, die außerhalb der Kontrolle selbst des allmächtigen Festivalchefs Thierry Frémaux liegen. Das dürfte spätestens seit dem positiven Corona-Test der französischen Schauspielerin Léa Seydoux klar sein, die am Samstag mitteilen ließ, dass sie es möglicherweise nicht an die Croisette schafft.
Seydoux ist der gefragteste Star in Cannes, sie spielt in vier Filmen mit – am Montag erstmals in Wes Andersons “The French Dispatch”. Mit etwas Glück schafft sie es bis Freitag noch zu Bruno Dumonts Mediensatire “France”. Die Masken-Carte-blanche auf dem roten Teppich sorgt seit Tagen für Unmut in den sozialen Netzwerken. Da wirkt auch die lässige Starpose eines Adam Driver, der sich während der Standing Ovations im Kinosaal eine Zigarette anzündete, irgendwie aus der Zeit gefallen.
Die Nachricht vom Positivtest der geimpften Seydoux hat die Stimmung nicht gerade verbessert. Am Samstag noch erklärte Frémaux die Gerüchte über einen Corona-Hotspot in Cannes als an den Haaren herbeigezogen; demgegenüber stehen offiziell bisher nicht bestätigte Informationen aus Testzentren, dass die Zahl der Positivtests am Wochenende drastisch anzogen haben soll. Die Show-must-go-on-Haltung von Frémaux und Cannes-Präsident Pierre Lescure, der auf Twitter ebenfalls Durchhalteparolen verbreitet, sorgt zunehmend für Irritation.
Pulsschlag der europäischen Filmbranche
Der Filmmarkt von Cannes, an dem sich der Pulsschlag der europäischen Filmbranche fühlen lässt, wirkt verwaist, auch die Marktvorstellungen sind leer. Derweil werden 2500 Menschen ins Grand Théâtre Lumière gezwängt. Dass ein Filmfestival nicht am Limit der Kapazitäten durchgezogen werden muss, hat die Berlinale gerade erst bewiesen.
Für Montagabend hat Emmanuel Macron eine Pressekonferenz angekündigt, in der er sich zu den steigenden Fallzahlen der Delta-Variante äußern will. Kaum jemand zweifelt daran, dass die Maßnahmen in Frankreich bald wieder verschärft werden. Thierry Frémaux täte als verantwortungsvoller Gastgeber gut daran, nicht erst auf eine Regierungserklärung zu warten.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch auf der Leinwand erweisen sich die Stargesten der männlichen Hollywood-Riege als reichlich überholt. Matt Damon in “Stillwater” von Tom McCarthy und Sean Penn in seiner sechsten Regiearbeit “Flag Day” spielen vorbestrafte Väter, die um ihre Töchter kämpfen. Penn hat die Rolle sogar mit seiner eigenen Tochter Dylan besetzt.
Dass sich diese Männlichkeitsbilder – der verstockte Midwesterner (Damon) lost in translation in Marseille, der ewige Peter Pan (Penn) auf Kleinkriminellentour – mit einem ganz bestimmten Amerika-Mythos (Trump-Land und 70er-Countryrock) überlagern, ist dabei genauso unangenehm wie das Chargieren der Stars. Hinter welchem albernen Gesichtshaar sich Damon und Penn auch verstecken, ihr Schauspiel sucht selbst in der Jedermanns-Rolle noch die große Geste. Ihre Menschlichkeit bleibt ein Eitelkeitenprojekt. Väter, die durch ihre Töchter Vergebung erlangen, sind neben wütenden Männern dieses Jahr das zweite große Thema an der Croisette.