Abschluss der Erfolgsserie „Der Araber von morgen“: Ein Familientrauma als Inspiration
Eine Jugend zwischen zwei Welten, geprägt von kulturellen Konflikten, Gewalt und dem Gefühl, nie richtig dazuzugehören. Ein egomanischer Vater aus Syrien und eine depressive Mutter aus Frankreich. Jahrelange, zunehmend eskalierende Auseinandersetzungen der Eltern, an deren Ende eine für immer zerrissene Familie steht. Die Biografie von Riad Sattouf ist reich an traumatischen Erfahrungen. Fast wäre er daran zerbrochen.
Doch stattdessen hat der 1978 in Paris geborene Autor seine Lebensgeschichte zum Ausgangspunkt einer der scharfsinnigsten, witzigsten und auch kommerziell erfolgreichsten autobiografischen Comicerzählungen der vergangenen Jahre gemacht: „Der Araber von morgen“.
Im vergangenen Jahr hat die in sechs Büchern veröffentlichte Reihe nach rund zehn Jahren und mehr als 1100 Seiten ihr Finale erreicht, kürzlich ist die deutsche Übersetzung des letzten Bandes erschienen. Ab Mitte dieser Woche wird ihr Schöpfer auf Europas wichtigstem Comicfestival in Angoulême mit einer großen Ausstellung geehrt, wo er im vergangenen Jahr den Großen Preis für sein Werk erhalten hatte.
In einer Reihe mit „Maus“ und „Persepolis“
Der Abschlussband von „Der Araber von morgen“ führt ein weiteres Mal vor Augen, wieso Sattouf in Frankreich ein Star ist und auch international als einer der wichtigsten zeitgenössischen Comicautoren gefeiert wird, dessen Werk in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde und ganz zu Recht in einer Reihe mit Klassikern wie Art Spiegelmans „Maus“ oder Marjane Satrapis „Persepolis“ gesehen wird.
Mit schonungsloser Offenheit sich selbst gegenüber, bemerkenswert viel Selbstironie und schwungvollen, souverän zu Papier gebrachten Bildfolgen führt er viele Erzählstränge der Reihe zu einem erzählerisch weitgehend runden Ende zusammen.
Die ersten Bände erzählten mit leicht karikiert überzeichneten Figuren davon, wie er und seine zwei Geschwister ihre frühe Jugend vor allem im Heimatland ihres Vaters, sowie in Libyen verbracht haben. Nach der Scheidung der Eltern, als Riad zwölf ist, wird das Herkunftsland seiner Mutter auch seine Heimat.
Die Schatten der Vergangenheit
Im letzten Band schildert er, wie aus dem komplexbeladenen Teenager, der neben dem Familientrauma massiv unter den Auswirkungen der Pubertät leidet, nach und nach ein selbstbewusster junger Erwachsener wird, der während des Kunst- und Animationsstudiums in Paris erste Erfolge als Comiczeichner hat – aber immer wieder von den Schatten der Vergangenheit eingeholt wird.
Nur wenige Autoren haben so ein gutes Gespür für die komplexe Gefühlswelt und die alltäglichen Erlebnisse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie Sattouf. Dass er davon mit großem Einfühlungsvermögen und ebenso viel Humor erzählen kann, hat er 2009 in seiner vielfach mit Preisen ausgezeichneten Teenager-Komödie „Jungs bleiben Jungs“ ebenso bewiesen wie in seiner von 2004 bis 2014 in der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ veröffentlichten Comicserie „La vie secrète des jeunes“, die auf seinen Beobachtungen von Jugendlichen und deren Interaktionen in Paris basierte.
Auch bei seinem fortlaufenden dokumentarischen Comic „Esthers Tagebuch“ (auf Deutsch bei Reprodukt) steht eine junge Hauptfigur im Zentrum: Die Reihe basiert auf Interviews mit der Tochter eines Freundes.
Hellseher und andere Scharlatane
Woher Sattoufs großes Verständnis vor allem für die Nöte und inneren Konflikte junger Menschen stammt, wird im Abschlussband von „Der Araber von morgen“ ein weiteres Mal sehr anschaulich vermittelt: Einen Großteil davon hat er selbst durchlitten. Die Erzählung setzt ein, als er 16 ist: Ein komplexbeladener, pickeliger Teenager mit gebückter Körperhaltung, der sich selbst als Semipsychopath beschreibt, mit seiner Umwelt fremdelt und dessen Zeichentalent das einzige zu sein scheint, für das er sich nicht schämt.
Sein größter Wunsch: Einfach nur in einer „normalen Familie“ zu leben. Doch seine Mutter ist von den vergangenen Jahren mit ihrem Vater schwer traumatisiert, vor allem durch ein Ereignis, das hier zur Spoiler-Vermeidung nicht erwähnt werden soll. Sie verfällt Hellsehern und anderen Scharlatanen. Mit seinen Brüdern verbindet Riad kaum etwas, er ist ein Einzelgänger, der sich in großspurige Tagträume flüchtet, im realen Leben aber ziemlich verloren wirkt.
Als auch noch Sattoufs Großeltern, die in früheren Jahren ihrem Enkel zumindest eine gewisse Stabilität vermittelt haben, zunehmend in Demenz und Altersschwäche abgleiten, muss der junge Ich-Erzähler seinen eigenen Weg finden.
Das vermittelt Sattouf wie gehabt mit präziser Beobachtungsgabe und dynamischen Bildern, die mit ihrer eleganten Linienführung an Sempé („Der kleine Nick“) erinnern. Dazu kommen authentisch klingende Dialoge, für die FAZ-Literaturredakteur Andreas Platthaus eine überzeugende deutsche Übersetzung gefunden hat, die den unterschiedlichen Sprachebenen der Figuren gerecht wird.
Neben seiner Familiengeschichte, die ab 2011 durch den Syrien-Krieg eine unerwartete und emotional bewegende Wendung erfährt, gibt Sattouf im letzten Band auch erhellende Einblicke in seinen Werdegang als Comicautor. So erfährt man, dass ihm der 15 Jahre ältere Szene-Star Émile Bravo bei einer zufälligen Begegnung den entscheidenden Impuls gab: Er empfahl Sattouf, seine Alltagsbeobachtungen und sein eigenes Leben zu seinem Thema zu machen. Kurz darauf erschien ein erster Kurzcomic über seine Jugend, „Charlie Hebdo“ wurde auf ihn aufmerksam, der Rest ist Geschichte.