Annett Gröschners Roman „Schwebende Lasten“: Hanna Krauses Gespür für Blüten
Die sogenannten kleinen Leute, wer sind die eigentlich? Romanheldinnen jedenfalls werden sie selten, seit Arbeiterliteratur in Zeiten mangelnden Proletarierstolzes keine Konjunktur mehr hat. Das ändert nun die Schriftstellerin Annett Gröschner, die als Journalistin mit Faible für die Historie des verflixten 20. Jahrhunderts für Publikationen und Ausstellungsprojekte immer wieder mit Zeitzeuginnen gearbeitet hat und mit dieser generationsübergreifenden DNA vertraut ist.
Gröschner firmiert seit Jahrzehnten als Kennerin Berlins und besonders des Prenzlauer Bergs, aber geboren wurde sie 1964 in Magdeburg. Dieser im Bombenhagel 1945 völlig zerschmetterten Heimatstadt und deren fiktiven Bewohnerin Hanna Krause widmet sie nun den lebensprallen Roman „Schwebende Lasten“, der programmatisch beginnt:
„Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien (…) erlebt hat, die bis auf ein paar Monate in Berlin nie aus Magdeburg rauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.“
Tagtäglich Resilienz zeigen
Die schicksalsschwere und lakonische Einführung der Figur, die dem ersten Kapitel voransteht, setzt den Ton von „Schwebende Lasten“. Was Annett Gröschner vom Leben der Arbeiterin Hanna Krause erzählt, konterkariert das heutige Modewort „Resilienz“. Hanna stammt aus einer ärmlichen Familie, heiratet Karl, der nicht nur ebenso wenig hat, sondern auch noch im Schwermaschinenwerk Krupp-Gruson in Magdeburg ein Bein verliert. Doch sie ist von jener unbeugsamen Sorte, die im Kriegs- und Umbruch-geschüttelten Deutschland der 1930er bis 1950er Jahre notgedrungen häufiger anzutreffen war. Sie kämpft sich tagtäglich durch, denn aufgeben gilt nicht, wenn man Kinder aufzuziehen hat. Und wer muss, der kann so manches, wenn es zu überleben gilt.
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© Susanne Schleyer
Vor die Kapitel hat Gröschner jeweils einen kleinen biologischen Exkurs gestellt. Darin beschreibt sie Blumensorten. Die Erläuterungen zu Blaustern, Ringelblume oder Gelber Fritillaria zeigen Hannas Fachwissen wie auch ihre wahre und über Jahrzehnte auf Eis gelegte Leidenschaft als Floristin.
Zu Beginn ihrer Ehe, als sie im „Knattergebirge“ genannten Armenviertel in der Magdeburger Altstadt ihren eigenen kleinen Blumenladen betreibt, da ist sie ihren Lieblingen noch nahe. Doch im Krieg geht der Laden pleite, die Altstadt wird zerstört im Januar 1945 im Feuersturm und auch in der Nachkriegszeit haben die Leute erstmal andere Sorgen als Blumen zu kaufen, die es in der DDR sowieso kaum gibt.
Brot für Zwangsarbeiterinnen
Hanna wird Kranführerin bei Krupp-Gruson, wo sie im Krieg schon gearbeitet hat. Politisch organisiert war Hanna nie, trotzdem steckt sie den hungernden ukrainischen Zwangsarbeiterinnen im Werk Brot zu. Einfach so, aus Anstand. Mit demselben Anstand, mit dem sie ihren Schwiegervater, ein NSDAP-Mitglied, ablehnt, der sich als Eisenbahner an der Deportationen von Juden Richtung Osten beteiligt.
Was „Schwebende Lasten“ ungewöhnlich macht, ist die Konsequenz, mit der Annett Gröschner lebendig von den Alltagsverrichtungen einer Frau erzählt. Von ihrer Morgenwäsche mit zwei Waschlappen, dem Anfeuern der Öfen, dem Kaffeemahlen.
Von Hannas Not, eine Engelmacherin zu finden, weil im Nationalsozialismus der Tod auf Abtreibung steht, der einbeinige Säufer Karl aber stur darauf besteht, seine Potenz zu beweisen. Sechs Kinder und etliche Abtreibungen sind die Folge. Mann oder Kinder zu verlassen, kommt für Hanna trotzdem nicht infrage. Es sind die ganz normalen, selten genug thematisierten Härten eines Frauenlebens, die sie erlebt.
Johannes verbrennt im Feuersturm
Mit drastischer Wucht beschreibt Gröschner die Kriegsschrecken in Magdeburg, dessen Altstadt sich bis heute nicht von davon erholt hat. Hanna wird verschüttet, ihr Sohn Johannes verbrennt im Feuersturm und Schwiegermutter Sibylle, Hannas erklärte Freundin, fällt zum Entsetzten der Kinder im Kleingarten einer Bombe zum Opfer. „Hanna hatte ihre Schwiegermutter fast nicht erkannt, denn ihre Haut war weg.“ Später entdeckt sie Sibylles Haut im Brombeergebüsch: „Hauchdünn und fast durchsichtig, wie beiläufig abgestreift.“ Hannas eigene Brandwunden und die ihrer Tochter Elisabeth zählen angesichts dieses Horrors kaum.
Auch wenn Hanna diejenige ist, die den Laden bei Krauses zusammenhält, ist „Schwebende Lasten“ bar jedes heroischen Gestus. Tun, was getan werden muss, das ist die Lebenshaltung, die die Feministin Annett Gröschner in ihrem Roman aus Frauenperspektive feiert. Und ein bisschen Magie geschieht selbst Hanna, die als junge Frau in ihrem Blumenladen den Auftrag eines geheimnisvollen Fremden erhält, das Blumenstillleben eines niederländischen Meisters nachzustecken.
Nach dem Mauerfall, da ist sie schon in ihren Achtzigern, reist sie mit den Töchtern nach Den Haag, um das Originalgemälde im Museum zu sehen. Mehr als 30 Blumensorten hat der Maler Ambrosius Bosschaert darin verewigt. Dieses prächtige Gebilde aus echten Blüten anzufertigen, wird Hanna Krauses einzig der Schönheit verpflichtetes Alterswerk.