Brutal zärtlich und in jeder Hinsicht radikal
Die Spannung war im Grand Théâtre Lumière in Cannes spürbar. Jury-Präsident Spike Lee zappelte bei der Verleihung der Goldenen Palme auf der Bühne herum, und plötzlich rutschte ihm – gleich zu Beginn der Zeremonie – der Titel des Siegerfilms heraus. Damit war relativ früh am Abend klar, dass die 74. Filmfestspiele von Cannes Geschichte schreiben würden, der euphorisierte Lee schien sich der Tragweite dieser Jury-Entscheidung bewusst zu sein. Als schließlich Julia Ducournau den Hauptpreis für ihren Film „Titane“ entgegennahm, erwartete man noch immer, dass jede Sekunde jemand aus den Kulissen auftaucht und sich für den Fehler entschuldigt (Kurz wurden Erinnerungen an die Oscars 2017 wach). Doch es kam niemand.
Die Goldene Palme für „Titane“ 2021 ist nicht nur historisch bedeutend, weil mit Ducournau erst zum zweiten Mal überhaupt eine Regisseurin den Hauptpreis in Cannes gewann (Vorgängerin Jane Campion musste sich ihren Preis vor 29 Jahren noch teilen). Die Auszeichnung ging auch an einen Film, der sonst eher zu der Sorte Kino gehört, mit der sich Arthouse-Festivals schmücken, um Offenheit zu demonstrieren: ästhetisch radikal, erzählerisch wagemutig – aber letztlich nicht mehr als eine interessante Facette des Gegenwartskinos.
Dieses Kino macht gerade allerdings – nicht erst mit „Titane“, vielleicht sogar schon seit dem Wachstum der Streamingangebote und der neuen Geschichten, die diese hervorbringen – einen elementaren Wandel durch. Julia Ducournau wies in ihrer Dankesrede selbst darauf hin, als sie sagte, dass die Jury mit dem Preis auch anerkennt, dass sich das Kino heute mit einer sich verändernden Welt auseinandersetzen müsse, in der ehemals normative Vorstellungen „fluide“ seien: wandelbar, unbestimmbar, offen für neue Erfahrungen.
So wie ihre Hauptfigur Alexia – keine klassische Heldin, schon gar keine Identifikationsfigur –, die in „Titane“ einen wahrlich fantastischen evolutionären Prozess durchläuft: Sie wird umso menschlicher, je transhumaner ihr äußeres Erscheinungsbild wirkt.
Die nichtbinäre Agathe Rousselle verkörpert die Heldin
Das nichtbinäre Model Agathe Rousselle verkörpert diese junge Frau mit einer aggressiven Triebstruktur. Als man ihrer Alexia zum ersten Mal begegnet, bahnt sie sich in einer mustergültigen Plansequenz auf einer Autoshow den Weg durch eine Menschenmenge, umgeben von tanzenden halbnackten Frauen und geifernden Männern.
Es ist nicht ganz klar, was hier ausgestellt werden soll: die Karosserien der Autos oder die Körper der Frauen. Erst als sie sich selbst auf die Motorhaube eines amerikanischen Musclecars schwingt, wird klar, wer hier tatsächlich wen anstarrt: Alexia ist auf der Jagd. Ihre Beute findet sie auf einem dunklen Parkplatz, der Fan, der sie nach der Show schüchtern um einen Kuss bittet, wird regelrecht gerissen. Ein Blutbad.
Schon in Ducournaus Debüt, dem kannibalistischen Liebesfilm „Raw“, waren zwischenmenschliche Begehren Ausdruck einer körperlichen Entfremdung. Ducournau, die auch die Drehbücher zu ihren Filmen schreibt, arbeitet zwar mit den Affekten des Horrorkinos, hinter der blutigen Oberfläche lauert jedoch eine animalische Zärtlichkeit. „Titane“ beginnt wie ein Horrorfilm, und bleibt es auch in dem Sinn, dass das Genre immer schon vom metaphysischen Kampf zwischen Körper und Geist handelte. Aber auf ihrer Flucht vor der Polizei durchläuft nicht nur Alexias Körper drastische Veränderungen; auch Ducournaus Film nimmt immer wieder neu Gestalt an.
Fetisch aus Metall und Sex
Der englische Autor J.G. Ballard hat der Fetischisierung von Metall und Sex mit dem dystopischen Klassiker „Crash“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Szene auf der Autoshow ist sozusagen ein feministischer Nachhall von Ballards Obsession, bei Ducournau allerdings reicht das Begehren, sich mit etwas Nicht-organischem zu verbinden, tiefer. Alexia lebt nach einem schweren Autounfall in ihrer Kindheit mit einer Titanplatte in Kopf. Die schneckenförmige Operationsnarbe über ihrem Ohr, die sich ein David Cronenberg nicht schöner hätte ausdenken können, trägt sie wie ein Branding.
Die Sexszene von Alexia in und mit einem röhrenden Cadillac, zu choralen Gesängen, ist aber zweifellos Produkt einer weiblichen Fantasie. Ruben Impens’ Kamera blickt lüstern in den Motorraum, betrachtet die Kolben und Rohre wie menschliche Eingeweide. Es ist die ultimative Pervertierung eines männlichen Blicks, Kenneth Angers Homoerotik aus „Scorpio Rising“ sozusagen auf den Kopf gestellt. Ducournau traut ihrem Publikum durchaus zu, diese Ironie zu erkennen. Nur sollte man sie bloß nicht als Witz abtun.
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„Barock“ nennt Ducournau im Gespräch ihren Stil. Sie erzählt, dass sie in der ersten halben Stunde von „Titane“ einen ästhetischen Überschuss produzieren wollte, eine genretypische Ikonografie aus Narben, Gewalt und Autos, um diese sukzessive zu sublimieren. Im Spiel mit Identitäten und Zuschreibungen findet „Titane“ schließlich auch zu seinem eigentlichen Thema, einer existenziellen Selbstlüge.
Alexia schlüpft in die Rolle eines zehn Jahre zuvor verschwundenen Jungen, dessen Vermisstenanzeige sie am Flughafen entdeckt. Der Beginn ihrer Transformation. Sie schneidet sich die Haare kurz, bindet sich Brüste und Bauch ab, der sich bereits verdächtig zu wölben beginnt. Aus ihren Brüsten tropft Motoröl. Der Vater des Jungen Adrien, gespielt von Vincent Lindon, ist ein von Hormonspritzen aufgepäppelter Muskelberg mit traurigen Augen, innerlich und äußerlich versehrt vom Trauma einer Verlusterfahrung.
Fluide ist in “Titan” nicht nur die Identität
Alexia/Adrien und Vincent, zwei gebrochene Seelen, bilden die wohl unwahrscheinlichste Schicksalsgemeinschaft in der jüngeren Kinogeschichte – verbunden durch zwei Lügen. Vincent hinterfragt in seiner Erleichterung über die Rückkehr Adriens das Angebot dieses stummen Menschen nicht, der da in das leere Kinderzimmer seines Sohnes einzieht, Alexia verinnerlicht die Identität des Jungen bis zur Selbstaufgabe. Ducournau sieht in diesem Prozess eine poetische Qualität: „Aus der Dunkelheit, die die Figuren umgibt, erwächst Liebe. Um diese Wahrheit über sich und ihre Beziehung zu erkennen, müssen beide zunächst aber ihre alten Leben abstreifen.“
Ducournau nennt ihren Film „queer“, betont gleichzeitig aber, dass ihr Begriff von Fluidität keineswegs nur Aspekte der Identität einschließt. Es gehe ihr auch ein um eine neue Wahrnehmung, das Verhältnis von sich zur Welt. „Titane“ hätte dieses Potenzial, unser Sehen (nicht nur im Kino) zu verändern, auch wenn sanftere Gemüter in manchen Szenen vielleicht versucht sind wegzublicken. Ducournau wählt den denkbar radikalsten Weg, kulturelle und soziale Zuschreibungen, selbst die vermeintlichen Gewissheiten zwischenmenschlicher Gefühle zu hinterfragen, bedient sich dabei aber auf virtuose Weise der gesamten Palette erzählerischer Möglichkeiten im Kino.
Eine maßgebliche Rolle spielt in Ducournaus Körperkino darum Musik. Es gibt in „Titane“ drei Tanzszenen, die jeweils eine neue Perspektive auf Alexia konstituieren. Songs („Light House“ von Future Islands, „Wayfaring Stranger“ von 16 Horsepower) übernehmen in ihrer Subjektwerdung als Adrien eine zentrale Funktion. „Ich wollte von Anfang an einen Film mit wenigen Worten machen“, erklärt dazu die Regisseurin. „Darum filmen wir die Tanzszenen wie einen Dialog zwischen Körpern. Beim Thema Liebe sind Worte oft unzureichend, manchmal machen sie die Sache sogar kleiner. Die Präsenz von zwei Körpern in einem Raum, Agathes und Vincents, eröffnet zudem einen Dialog mit dem Publikum. Musik ist emotional.“
Diese Einladung ist aufrichtig gemeint. Die rohen Emotionen und die zärtliche Brutalität in Ducournaus Geschichte sollen niemanden abschrecken, sondern als Ausdruck schonungsloser Ehrlichkeit verstanden werden. Nach der völlig missglückten Dramaturgie der Cannes-Verleihung hatte die Regisseurin noch gescherzt, dass das Unperfekte ja nur menschlich sei. Den Satz möchte sie auch für ihren Film stehen lassen. Wer weiß, ob „Titane“, dieses unperfekte Monster von einem Film über unperfekte Menschen, eine neue Sorte von Kino ermöglicht? Aber Julia Ducournau hat ein Tor aufgestoßen, das sich nicht wieder schließen lässt. Es führt hinein in die Dunkelheit – und strahlt am Ende gleißend hell. (Ab Donnerstag im Kino)