Tragischer Held

Die Autorin ist eine russische Journalistin, die als Kolumnistin für die oppositionelle Zeitung „Nowaja Gaseta“ gearbeitet hat. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sie das Land verlassen. Sie lebt jetzt in Berlin und nimmt an einem Journalistenprojekt des Tagesspiegels teil.

Zuletzt habe ich Michail Gorbatschow vor einigen Jahren auf einem Fest des Radiosenders Echo Moskwy gesehen – heute ist dieser Sender wegen seiner Oppositionsrolle geschlossen. Diese jährlichen Partys waren erstaunliche Versammlungen.

Dorthin gingen Oppositionelle und Vertreter der Präsidialadministration, unabhängige Journalisten und Propagandisten von staatlichen Sendern. Alle tranken zusammen Prosecco und machten gemeinsame Fotos. Heute ist es schon seltsam, nur daran zu denken.

Gorbatschow saß an einem Tisch in der Ecke. Er war nicht allein, doch es war offensichtlich, dass er bei den Menschen um ihn herum kein großes Interesse weckte. Aber um den Oppositionellen Alexej Nawalny (das war noch bevor der FSB ihn mit Nowitschok vergiftete) und um Putins Pressesprecher Dmitri Peskow herrschte dichtes Gedränge. Zu ihnen durchzukommen, war gleichermaßen unmöglich.

In der kurzen Zeit, die seit dem Tod von Michail Gorbatschow vergangen ist, bin ich hier in Deutschland mehrfach gefragt worden: „Was hat sich in Russland mit dem Tod des Mannes verändert, der den Kalten Krieg ohne Blutvergießen beendet und demokratische Reformen begonnen hat? Spielt es eine Rolle, dass seine Stimme nicht mehr gehört werden kann?“

Dimensionen wie bei Shakespeare

Darauf kann ich leider nur antworten: Überhaupt nichts hat sich geändert. Auf seine Stimme hat in Russland schon lange niemand mehr gehört – um ehrlich zu sein, schon seit seiner Ablösung durch Boris Jelzin nicht mehr. Der Grund dafür liegt nicht in Michail Gorbatschows Person, sondern in der russischen Gesellschaft, die es nie vermochte, sich vom Kult der Stärke loszusagen.

Ein Mangel an Stärke und sogar an Machismo – das ist es, was Gorbatschow in Russland hauptsächlich vorgeworfen wird. Genau deshalb erlangte er in Russland nicht die Bedeutung, die ihm gebührt.

Michail Gorbatschow ist sicher eine tragische Figur von fast shakespeareschem Ausmaß. Er lebte lange genug, um sehen zu können, dass all seine Bemühungen zunichte gemacht wurden, dass alles, was er schätzte, in den Dreck gezerrt wurde.

Selbst die Liebe und die Bewunderung kamen – was für eine bittere Ironie – nicht von dort, wo er es sich gewünscht hätte. Die Begeisterung, die er im Westen auslöste, unterstrich nur die totale Abneigung gegen ihn in Russland.

In seiner Heimat war er bei Menschen mit gegensätzlichen politischen Ansichten praktisch gleichermaßen unbeliebt. Eine Mehrheit in Russland kann ihm den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vergeben. Dagegen werfen ihm die Liberalen vor, dass er dem Streben der Republiken nach Unabhängigkeit entgegentrat.

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Unvergessen sind für sie die brutale Niederschlagung einer Demonstration in Georgien 1989, der Einmarsch von Truppen in Baku 1990 und der Tod von Menschen in Vilnius 1991.

Beide Seiten werfen Gorbatschow einen Mangel an Stärke vor. Die einen glauben, dass es ihm an Kraft und vor allem an Härte fehlte, um die UdSSR zu erhalten, die anderen, dass er nicht stark genug war, um sich augenblicklich vom sowjetischen Imperialismus zu befreien.

Auf einer unpolitischen Ebene äußerte sich die Verärgerung über Gorbatschows angebliche „Schwäche“ in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Beziehung zwischen ihm und seiner Frau. Der Präsident Michail Gorbatschow wurde endlos beschuldigt, er sei ein „Pantoffelheld“ – das ist selbst heute noch eine der schlimmsten Beleidigungen für einen Mann in Russland.

Anekdoten und Karikaturen zu diesem Thema hatten großen Erfolg. Eine Karikatur zeigte ihn beispielsweise beim Geschirrspülen, die Arme bis zum Ellenbogen im Spülwasser. Er drehte sich um und rief jemandem zu (wahrscheinlich seiner Frau): „Wenn das Bush ist, der anruft, sag ihm, ich bin beschäftigt!“

Die Beschäftigung mit „Frauensachen“ und nicht mit „wichtigen männlichen“ Dingen gilt in Russland immer noch als irgendwie peinlich. Gorbatschows „anstößige“ Beziehung zu seiner Frau wurde überall diskutiert – gleichzeitig unterschied sich Raissa Gorbatschowas Verhalten nicht von dem anderer First Ladies.

Das sowjetische Erbe vermochte er nicht aufzugeben

Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen es unmöglich war, in einen Trolleybus einzusteigen, ohne in eine hitzige und wütende Diskussion zu diesem Thema verwickelt zu werden.

Tatsächlich erforderte es in der sexistischen sowjetischen Gesellschaft viel Kraft und Mut, die eigene Frau sichtbar zu machen und sie als Gefährtin und Mitstreiterin zu zeigen. In der modernen russischen Gesellschaft ist das im Prinzip noch genauso – gerade deshalb hält Putin so an seinem Macho-Image fest.

Das ist selbstverständlich nicht das einzige Zeichen von Stärke bei Michail Gorbatschow. Aber seine Tragödie bestand darin, dass seine wirklich starken Leistungen – das Ende des Krieges in Afghanistan, der Beginn des Truppenabzugs aus Deutschland, die Aufhebung der Zensur in der Sowjetunion, der Fall des Eisernen Vorhangs – in seiner Heimat nicht als „Stärke“ wahrgenommen wurden.

Die Mehrheit versteht unter „Stärke“ traditionell die Fähigkeit, mit allen Mitteln darauf zu beharren, den eigenen Willen durchzusetzen und jede Kritik aggressiv zurückzuweisen.

Es ist klar, dass solche Leute Gorbatschow hassen. Und in den Augen der liberalen Minderheit ist sein Ruf dadurch beschädigt, dass er das sowjetische Erbe nicht ganz aufzugeben vermochte und manchmal nach den Methoden seiner Vorgänger handelte.

Auf dem eingangs erwähnten Fest von Echo Moskwy entschied ich trotzdem, Gorbatschow ebenfalls zu begrüßen, und ging zu seinem Tisch. In dem Moment kam ein sehr junger Mann auf ihn zu und schlug ihm vor, ein gemeinsames Foto zu machen.

„Vielleicht wollen Sie mich etwas fragen?“, sagte Gorbatschow. „Was gibt es schon zu fragen“, entgegnete der andere. „Lassen Sie uns lieber ein Selfie machen.“ Michail Gorbatschow blickte gehorsam in die Kamera.