Auf dem Thron, im Bordell oder auf der Flucht

Die Autorin ist eine russische Journalistin, die als Kolumnistin für die oppositionelle Zeitung „Nowaja Gaseta“ gearbeitet hat. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sie das Land verlassen. Sie lebt jetzt in Berlin und nimmt an einem Journalistenprojekt des Tagesspiegels teil.

Eigentlich sollte mein Hund seine Memoiren schreiben. Sagen Sie mir nicht, dass ich das für ihn machen muss – ich möchte ungern riskieren, mir vorwerfen zu lassen, ich würde etwas wie kulturelle Aneignung betreiben…

Aber würde er seine Memoiren schreiben – es wäre ein Bestseller, da bin ich mir sicher! „Leben und Ansichten von Jack, dem Hund“.

Gut, seine Ansichten soll er einfach später mal nachliefern.

Aber einen kurzen Abriss seines bisherigen Lebens, den kann ich doch geben. Also: Zuerst war er in einem Tierheim in der Nähe der kleinen Stadt Serpuhkov. So viel ich weiß, muss es dort sehr unheimlich gewesen sein – in russischen Tierheimen gibt es nämlich die Regel, dass immer ein kleiner und ein großer Hund gemeinsam in einem Käfig gehalten werden, um Kämpfe zu vermeiden.

Da saß der kleine Jack mit einem riesigen Wolfshund, der ihn offensichtlich quälte. Die Aufpasser in Camouflage-Kleidung quälten ihn ebenfalls – warum sonst hätte er eine so unmittelbare und unfehlbare Abwehr gegen Männer entwickelt, die solch eine Kleidung tragen?

Eine Handvoll Coaches

Aber dann kamen wir und nahmen ihn mit in unsere Wohnung in Moskau. Vor Schreck und Verwirrung fing Jack an seine Haare zu verlieren, und wir entschieden, ihn in einen Hundesalon zu schicken.

Uns schien es, als würden sie ihn dort wirklich richtig gut behandeln, aber nach dem Baden und Nägelschneiden durfte er einen Blick in den VIP-Bereich werfen, wo es Hündchen gibt, die wortwörtlich auf einem Thron sitzen dürfen. Respektvoll sagte die Hundefriseurin: Schau, dies hier ist der Liebling von (und nannte dann den Namen der Ex-Frau eines berühmten russischen Filmregisseurs).

Mit diesem Elitedenken musste Jack sich übrigens noch häufiger herumschlagen. Die Besitzer aller Arten von Labradoodles erklärten ihm stets, dass er, ein „falscher Hund“ sei. Einmal allerdings reagierte eine ältere Dame, Halterin eines Scotchterriers, mit einem Taser auf sein Knurren, und daraufhin kam eine Hand voll Coaches und Trainerinnen in Jacks Leben.

Eine dieser Trainerinnen erklärte Jack, dass er erwachsen sei, also mit sexuellem Begehren ausgestattet, und dass er ein Hundebordell aufsuchen müsse. Also nahmen wir ein paar Hundebordelle in Augenschein und waren verstört: Die Hündinnen dort wurden mit Hormonen vollgepumpt, um sie willig zu halten. Zu der besagten Trainerin gingen wir nie wieder, stattdessen kam Nastya kurze Zeit später in unser Leben.

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Und Jack lernte, was es bedeutet, jemanden anderes zu lieben als nur unsere Familienmitglieder. Er lernte, neben uns zu spazieren, „bei Fuß“ zu mir zu rennen, und hätte bald gemeistert, an anderen Hunden vorbeizulaufen, ohne ihnen Beachtung zu schenken – aber dann attackierte Russland die Ukraine und alles änderte sich.

In den ersten beiden Monaten des Kriegs musste Jack sich wieder an Einsamkeit gewöhnen (wenn du allein in einer riesigen Wohnung bist und zwei mal am Tag für eine Viertelstunde Gassi geführt wirst), an Vaterlosigkeit (wenn du dich immer in den Wohnungen fremder Menschen aufhalten musst) und an das Verlassensein (wenn dein Besitzer dich überhaupt nicht beachtet, sondern nur weint).

Aber dann geschah Folgendes: Jack stieg in ein Auto, überquerte mehrere Grenzen, wartete in Schlangen, schlief in einem hundefreundlichen Hotel und verirrte sich auf polnischen Landstraßen. Als wir die Berliner Adresse erreichten und aus dem Auto stiegen, war das allererste, das uns über den Weg lief, eine Katze – und Jack drehte sich weg und starrte ergeben in eine andere Richtung. Er kapitulierte.

Drei Tage verweigerte er Essen und Trinken

Zwei Monate vergingen. Nein, Jack ist kein richtiger Berliner geworden in der Zwischenzeit. Er fährt zwar U-Bahn, wie es bei hiesigen Hunden üblich ist, aber er fürchtet sich offensichtlich dabei. Er hat gelernt, im Café unter dem Tisch zu liegen, aber wenn ein Croissant herunterfällt, dreht er durch. Und er hält es nicht aus, von der Familie getrennt zu sein. Als mein Partner Kostya auf Geschäftsreise war, verweigerte Jack drei Tage lang jedes Essen und Trinken.

Gestern ist mein Sohn Grisha weggefahren und seitdem liegt Jack vor seiner Zimmertür, obwohl ich ihm schon hundertmal gezeigt habe, dass niemand darin ist. Jack hat sich daran gewöhnt, dass jemand neben ihm weint, und er hat gelernt, in solchen Momenten besonders süß zu schauen.

Draußen schnappt er von Zeit zu Zeit nach anderen Hunden. Aber insgesamt schnappt er jetzt viel seltener nach irgendjemanden. Denn hier gibt es kaum Männer in Camouflage-Klamotten.