Volker Weidermanns Buch „Mann vom Meer“: Auf Liebe und Tod
Zu und über Thomas Mann ist im Grunde alles geschrieben und gesagt worden, zuletzt erst auf über 1500 Buchseiten von dem Heidelberger Germanisten und Literaturprofessor Dieter Borchmeyer (wobei dieser, obwohl er den Anspruch hat, umfassend zu sein, ausgerechnet die Liebe in Manns Werk, dessen sexuelle Orientierung und Liebesverzicht übergeht).
Weshalb man es mutig finden kann, dass nun auch Volker Weidermann ein Buch über Thomas Mann geschrieben hat, ein vergleichsweise schlankes über „die Liebe seines Lebens“, wie es im Untertitel heißt: „Mann vom Meer“.
Weidermann, Feuilletonchef der „Zeit“ und Autor von Büchern unter anderem über Anna Seghers oder die Freundschaft von Stefan Zweig und Joseph Roth, untersucht die lebenslange und enge Beziehung, die Thomas Mann zum Meer hatte, beginnend an dem Tag, da dieser als Siebenjähriger erstmals der Ostsee angesichtig wurde: „An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies“, wird Mann als 51-jähriger weltberühmter Schriftsteller bei einem Festakt in seiner Heimatstadt sagen, „wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedigung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in meinem Leben, das ich doch heute nicht mehr arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war.“
Das Glück in Travemünde
Natürlich belegt Weidermann an vielen Stellen in Manns Büchern, dass das Meer „der stille Held“ in dessen Büchern ist: vom „Kleinen Herr Friedemann“, der sich nach dem Wasser, nach dem Meer sehnt, im übrigen „die erste Figur im Werk Thomas Manns, die ein Leben unter dem Motto „Verleugne dich selbst“ zu führen versucht“, wie Weidermann schreibt, über Tonio Kröger, der ein paar Tage in einem „weißen Badehotel“ verbringt, stundenlang am Strand spaziert und „schließlich in einen Traum oder in eine Wirklichkeit, einen Meertraum“ gerät, bis zum „Tod in Venedig“ und natürlich den „Buddenbrooks“.
In den Buddenbrooks wird vor allem für Tony und Hanno Buddenbrook das Meer zum Schicksal, für die eine als lebenslanger Kraftspender, für den anderen als Virus, der die Todessehnsucht überträgt. Wie konstatiert es Weidermann: „Das Meer ist dieser geschäftsuntüchtige Ort. Das Meer bringt schwache Lebenszweifler zur Strecke. Zur Genesung ans Meer zu fahren – keine gute Idee. Diese Kur war schon für den bleichen Hanno eine Kur zum Tode gewesen.“
Weidermann hat der Lebensliebe Manns eine generationenübergreifende Klammer mitgegeben. Sein Buch beginnt und endet mit der jüngsten Tochter des Schriftstellers, Elisabeth Borghese, die ihr Leben, insbesondere ihr Arbeitsleben, dem Meer gewidmet hat. Unter anderem gründete sie das Internationale Ozeaninstitut in Malta und war maßgeblich an der dritten Seerechtskonferenz der UN beteiligt.
Und der Thomas-Mann-Liebhaber, der Weidermann selbst seit seiner frühen Jugend ist, erzählt zu Beginn von Manns Mutter Julia und wie diese im brasilianischen Paraty ihre frühe Kindheit verbrachte, im Alter von sechs Jahren an die Ostsee nach Lübeck kam und hier schließlich zwar nicht ihre große Liebe heiratet, aber mit dem zwölf Jahre älteren Konsul Thomas Johann Heinrich Mann eine „gute Partie“ macht.
Fast unmerklich begibt sich Weidermann dann in die chronologische Lebensbeschreibung von Mann und schreibt ein Porträt von diesem als junger Mann und immer erfolgreicher werdenden Schriftsteller, dabei immer darauf achtend, dass die „Meeresbiografie“, wie er sein Vorhaben mehrmals nennt, nicht zu kurz kommt.
Immer geht es am Meer entlang: das „Paradies“, das Travemünde ist, in der Literatur wie im Leben; die „Fahrt in den Abgrund“, die Gustav Aschenbach in Venedig unternimmt; die Familie Mann am Ligurischen Meer, eine Reise, auf der später die Novelle „Mario der Zauberer“ basieren wird; das Haus in Nidda auf der litauischen Kurischen Nehrung mit dem traumhaften Blick aufs Meer durch große Pinien hindurch. Dieses Haus ist nur kurze drei Jahre ein sommerliches Zuhause, weil die Manns aus dem nationalsozialistischen Deutschland raus und emigrieren müssen.
Das Meer steht für den Schriftsteller einerseits sinnbildlich für sein sexuelles Verlangen, seine homoerotische Orientierung: Erst sind es noch echte Liebschaften, wie man aus den Tagebüchern erfährt, Weidermann erwähnt sie alle, dann sind es Träumereien und Beobachtungen aus sicherer Distanz, vom Strandkorb aus, auf den Promenaden. Andererseits ist das Meer für Thomas Mann bei allem Zauber auch eine Art Todesengel. Es steht für die Vergänglichkeit, für ein existentielles Sich-Verlieren, von Aschenbach über Thomas bis zu Hanno Buddenbrook.
Und Hans Castorp, der Bergheld von Thomas Mann? Auch dieser sehnt sich in der berühmten „Zauberberg“-Schneeszene nach dem Tod – doch der Traum vom Meer, den Castorp im Tiefschnee träumt, bringt ihn vorerst ins Leben zurück. „Der Todessympathisant wird Verantwortungsdichter“, schreibt Weidermann. Mit „Mann vom Meer“ hat Volker Weidermann gleichermaßen eine Meeresbiografie des großen Schriftstellers und eine zugänglich-schlanke, auch dessen politischen Moves nicht vernachlässigende Thomas-Mann-Biografie geschrieben. Ein flinkes, sehr leistungsfähiges Beiboot zu Borchmeyer, könnte man sagen, mindestens eine unverzichtbare Ergänzung. Und eine Einladung, wieder einmal in das Werk Thomas Manns einzutauchen.