Das ist bei uns so Ouzo
Was für ein Segen ist doch das deutsche Stadttheatersystem! Wir verdanken es einerseits der historischen Zersplitterung unseres Landes in unzählige Fürstentümer – von denen jedes natürlich eine landesherrliche Bühne samt eigener Hofkapelle haben wollte. Und andererseits der enormen Wirtschaftskraft der heutigen Bundesrepublik, das es sich erlauben kann, die aus feudalen Zeiten ererbte Fülle an Hochkultur staatlicherseits finanziell zu unterstützen.
81 Orte gibt es in der Bundesrepublik, an denen das ganze Jahr über Musiktheater geboten wird. Damit hat Deutschland so viele dauerhaft bespielte Opernhäuser zu bieten wie der Rest der Welt zusammen. So hat es Ralph Bollmann ausgerechnet. Er bereiste alle Gesangsmusentempel hierzulande – und berichtete über seine Reisen in die Provinz in dem Buch „Walküre in Detmold“, mit wachem Soziologenblick und liebevoller Bewunderung für die klassische Basisarbeit.
Häufig sind die Angebote an den kleinen und mittleren Häusern nämlich spannender als in den ganz großen. Weil in der so genannten Provinz mutiger geplant werden kann, ohne Rücksichtnahme auf die Allüren durchreisender Stars. Und weil das Publikum vor Ort überschaubar ist und man darum mehr Premieren herausbringen muss als in den Metropolen, wo sich auch in die Jahre gekommene Inszenierungen von Aida, Bohème, Carmen und Co. meist mit Touristen füllen lassen.
Erst “Elektra”, dann die Fortsetzung der Tragödie
Besonders konsequent wird der programmatische Wagemut am Theater Erfurt gepflegt. An der ganz auf Oper, Operette und Musical spezialisierten Bühne der thüringischen Landeshauptstadt lautet das Motto der Saison 2022/23 „Erkenne Dich selbst!“, nach der berühmten Inschrift am Tempel von Delphi. Alles dreht sich in der nächsten Spielzeit in Erfurt ums antike Griechenland, quer durch die Genres, von der ersten bis zur letzten Premiere.
Der neue Generalmusikdirektor Alexander Prior startet im Oktober mit Richard Strauss’ „Elektra“ – und legt später mit Felix Weingartners „Orestes“ sogar noch das Sequel nach: Weingartner, zu Lebzeiten ein gefeierter Dirigent, hat 1902 vertont, was in der antiken Tragödie nach dem Tod von Klytämnestra und Aegisth passiert: Orest legt sein Schicksal in die Hand der Götter und wird von Athene freigesprochen. Weil es ihr gelingt, auch die Erinnyen zu beruhigen, ist der Kreislauf von Mord und Rache endlich durchbrochen.
Und noch eine weitere Repertoire-Rarität hat sich der hochmotivierte neue Musikchef vorgenommen, Glucks „Telemaco oder die Insel der Circe“ von 1765. Das „dramma per musica“ dreht sich um Odysseus Sohn, der sich mit einer launischen Zauberin herumschlagen muss. Der Opernreformer Gluck bietet hier nicht nur virtuose Arien, er fügt auch Chorszenen und Tänze in die Handlung ein, ganz nach dem Vorbild griechischer Dramen. An denen orientierte sich ebenfalls Mikis Theodorakis, als er 1988 für die Arena di Verona seine „Zorbas“-Filmmusik zu einem Ballett umarbeitete. Der Choreograf Jorge Pérez Martínez bringt diese Festspielfassung in Erfurt auf die Bühne.
Als Musical wird “The Boys From Syracuse” gespielt
Der frühere griechische Generalmusikdirektor des Hauses, Myron Michailidis, dirigiert die Uraufführung einer Oper, die er noch in seiner Amtszeit in Auftrag gegeben hat: Komponist Nestor Taylor hat sich dafür vom autobiografischen Roman „Eleni“ des Autors Nicholas Gage inspirieren lassen. Darin wird vom Bürgerkrieg zwischen kommunistischen Partisanen und rechtsgerichteten griechischen Regierungstruppen in den Jahren 1946 – 49 erzählt.
Als Musical gibt es die 1938 von Richard Rodgers nach Shakespeares „Komödie der Irrungen“ für den Broadway geschrieben Show „The Boys From Syracuse“ – die Stadt auf Sizilien war in der Antike die größte Siedlung der Hellenen außerhalb ihres Heimatlandes. Ihr Glanz ist bis heute in der „zona archeologica“ von Siracusa zu bewundern. Eine Rarität mit Hellas-Bezug erklingt vom Belcanto-Hitschreiber Gioacchino Rossini, nämlich „Die Belagerung von Korinth“, eine 1826 für Paris entstandene Neufassung seines „Maometto secondo“. Der populärste Titel in diesem entdeckungsfreudigen Erfurter Griechenland- Panorama ist darum 2022/23 tatsächlich Jacques Offenbachs antikesatirische Operette „Die schöne Helena“. Hut ab vor so viel Mut!