Frauen machen die Regeln
Ja, die Hitze hängt gerade über ganz Europa, aber in Locarno ist es im August während des Filmfestivals immer besonders heiß. Gerne flüchtet man sich vor der Schwüle ins Kurhaus. Der in einem kleinen Park gelegene Bau mit seiner großen Fensterfront hat ein Spielkasino, ein Restaurant und ein Kino zu bieten. Hier finden, angenehm klimatisiert, die Pressevorführungen des Wettbewerbs statt.
Einmal geht während eines Films wiederholt das Licht an, irgendwann bleibt das Bild ganz stehen. Eine junge Frau kommt ins Kino und entschuldigt sich, in der Küche sei ein Hähnchen angebrannt, die Schwaden hätten die Alarmanlage ausgelöst, deshalb müsse man sich jetzt etwas gedulden. Heiterkeit im Saal, und bald wird es wieder dunkel. Irgendwie passt der kleine Vorfall zur 75. Jubiläumsausgabe des Festivals.
In diesem Jahr probierten sich viele Filmemacherinnen an Stoffen aus, bei denen man sich leicht die Hände hätte verbrennen können. Sie betreten Grenzbereiche, arbeiten mit expliziten Bildern von Sex und Gewalt. Sie verwehren dem Publikum die Rolle des Voyeurs, fordern es vielmehr auf, sich einer Situation auszusetzen und dazu zu verhalten.
Dieser Jahrgang von Locarno ist ein besonders physischer und sinnlicher. Man begegnete Heldinnen, die mit ihren Körpern Politik betreiben, Geschlechterrollen und -zuschreibungen neu interpretieren und im Fluss halten. Exzessiv, spielerisch oder auch sexuell provozierend begeben sie sich auf die Suche nach sich selbst, ihrer Identität, stets offen für überraschende, manchmal auch extreme Situationen. Der Körper ist das Instrument, mit dem sie sich und ihre Umgebung registrieren, neu entdecken. Oder er wird zum offensiv eingesetzten Kommunikationsmittel.
Den Goldenen Leoparden, den Hauptpreis des Festivals, gewann der brasilianische Wettbewerbsfilm „Regra 34“ („Rule 34“) von der Regisseurin Julia Murat. Zu Beginn sieht man auf einem Computerbildschirm eine junge schwarze Frau. Sie spielt mit ihren Brüsten, befriedigt sich mit einem Dildo. Bezahlt wird sie in Token, einer Kryptowährung: Je lauter sie stöhnt, desto höher die eingeblendeten Zahlen.
Die bisexuelle Simona (Sol Miranda) ist angehende Juristin und beschäftigt sich gerade mit Fällen häuslicher Gewalt und mit sexuellen Übergriffen. Sie ist in zwei Welten unterwegs, die in einem irritierenden Spannungsverhältnis stehen.
Dass im Netz zu allem Vorhandenen auch Pornografie existiert
Der Titel des Films bezieht sich auf die sogenannte Internetregel 34, die besagt, dass im Netz zu allem Vorhandenen auch Pornografie existiert. Tagsüber hört Simona den misshandelten Frauen zu, abends setzt sie sich und ihrem Körper Gewalterlebnissen aus. Nach dem ausgelassenen Sex mit Mitbewohnerin und Mitbewohner erkunden die drei gemeinsam, wie die Haut auf glühende Zigaretten reagiert, wie es sich anfühlt, wenn ein scharfer Gegenstand über den Hals gleitet. Angst oder Erregung – oder beides? Lassen sich Selbstschutz und Kontrollverlust vereinbaren?
Diese manchmal schmerzhaften Erfahrungen werden auch Simonas Internet-Job verändern. Bei ihrer Arbeit als Webcam-Girl versucht sie auf SM-Stellungen und Bilder zu verzichten, die mit Sklaverei assoziiert werden könnten. Sie hinterfragt das Regelwerk der BDSM-Szene und dessen Begrifflichkeiten. Bei den juristischen Vorlesungen wiederum attackiert sie die Gesetzgebung und deren Umsetzung, da sie die Repressionen von schwarzen, indigenen und queeren Menschen reproduziere. Murats Film folgt einer Frau, die konsequent versucht, sich aller Regeln zu entledigen. Es ist eine bewusste und selbstbestimmte Achterbahnfahrt. Und man muss als Zuschauerin entscheiden, ob man aufspringt.
Der Film „Tengo sueños eléctricos“ („Ich habe elektrische Träume“) der costa-ricanischen Regisseurin Valentina Maurel setzt gleich in der ersten Einstellung das diffuse Körpergefühl der Pubertät in Szene. Eva weiß nicht, wohin mit ihren Armen und Beinen, deshalb beansprucht sie den Platz auf dem Autorücksitz für sich allein, während die kleine Schwester in der Ecke kauert.
Die Eltern wollen sich scheiden lassen. Eva möchte beim Vater wohnen, denn wie sie befindet auch er sich in einer Umbruchphase. Nach der Trennung lebt er wie ein Berufsjugendlicher, schreibt Gedichte und feiert Partynächte mit Drogen.
Ein junges Mädchen, das beginnt, Grenzen zu setzen
In Locarno wurde Valentina Maurel als beste Regisseurin ausgezeichnet, Daniela Marín Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez, die Vater und Tochter spielen, erhielten die Preise als beste Darstellerin und bester Darsteller.
Voller Empathie betritt Maurel die Wahrnehmungswelt ihrer Heldin, erzählt eine Coming-of Age-Geschichte als verstörenden und zugleich lustvollen Prozess. Eva onaniert, reibt sich an der Kante ihres Schreibtisches. Leidenschaftlich küsst sie einen Fremden auf einer Party und sendet doch die nötigen Signale aus, wenn sie seine Berührungen als zu intim empfindet.
Doch wie mit den Aggressionsschüben des Vaters umgehen? Oder mit ihren Gefühlen für einen seiner Freunde, der ihm ähnlich sieht und mit dem sie ihren ersten Sex hat? Eva arbeitet sich an Männern ab, die in sich selbst gefangen sind. Aus nächster Nähe begleitet die Kamera ein junges Mädchen, das beginnt, Grenzen zu setzen, eigene Bereiche zu markieren. Es ist eine Bewegung, die zum Bruch mit einem geliebten Menschen führen wird, aber auch einen Neuanfang auf Augenhöhe ermöglicht.
Noch eine Eva. Und wieder eine Geschichte, die so noch nicht erzählt wurde. „Piaffe“ von der in Berlin lebenden, aus Israel stammenden Künstlerin und Filmemacherin Ann Oren arbeitet mit Fantasy-Elementen, umkreist spielerisch die von unzähligen Diskursen umzingelten Begriffe Körper und Identität. Nachdem ihre Schwester in die Psychiatrie eingeliefert wurde, muss die introvertierte Eva deren Job als Foley Artist, als Geräuschemacherin, beim Film übernehmen und einen Pferdespot vertonen. Stundenlang könnte man mit der jungen Frau mit dem langen Pferdeschwanz in dem analogen Tonstudio verweilen, wenn sie mit schweren Schuhen auf Parkett oder mit den Händen auf Sand klatscht, um das Getrampel der Hufe zu imitieren. Körper und Klang werden eins. Plötzlich beginnt Eva wie ein Pferd mit den Füßen zu scharen. Eines Morgens wacht sie mit einem Schweif am Steißbein auf.
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Es ist ein so schöner wie absurder Anblick, wenn die Kamera ihr folgt, Pferdeschwanz und Pferdeschweif im Duett hin- und herschwingen. Eva zieht durch die Berliner Clubszene, entdeckt mit ihrem neuen Körperteil ihre Sexualität noch einmal anders. In farbsatten, ins Surreale gleitenden Bildern zelebriert „Piaffe“ dieses unbeschwert-kreatürliche Anderssein.
Schade nur, dass „Piaffe“ in Locarno bei der Preisverleihung übersehen wurde. In der Erinnerung setzen sich die Geschichten von Simone und den beiden Evas zu einem eigensinnigen Festivalfilm zusammen. Die Bilder der in Hamburg lebenden Filmemacherin Helena Wittmann wiederum entziehen sich jedem Narrativ oder besser: Sie brauchen keines.
In „Human Flowers of Flesh“ läuft man quasi hinein, folgt vier Männern und einer Frau bei einer Klippenwanderung. Der Blick geht aufs Mittelmeer, Fernweh erfüllt das Bild. Auf einem Segelboot reisen die Figuren von Marseille über Korsika nach Nordafrika. Sie bewegen sich auf den Spuren von Fremdenlegionären, lesen deren Briefe. Die unbestimmte Sehnsucht nach der Ferne schwingt in Helena Wittmanns Meeres- und Wellenbildern mit. Sie laden ein, sich treiben zu lassen. Die Grenze zwischen Zuschauerraum und Leinwand löst sich auf. Wie schon Wittmanns Debüt „Drift“ über eine poetische Atlantiküberquerung ist auch „Human Flowers of Flesh“ ein pures Seherlebnis. Und deshalb hätte er einen der großen Preise von Locarno verdient gehabt.