Ukrainisches Kriegstagebuch (176): Willkommen in Odessa!
Es ist halb neun am Morgen, und mein Gehirn funktioniert gerade nur langsam, wahrscheinlich wegen der Erkältung, die ich seit gestern immer deutlicher spüre. Ich konnte leider nicht durchschlafen, da der Luftalarm mitten in der Nacht sehr laut war. Im Frühstücksraum erzählen mir die Jungs aus der Band, dass sie das Brummen der vorbeifliegenden Drohnen gehört haben. Verdammt, das fängt ja gut an! Herzlich willkommen in Odessa!
Wir sind gestern spät am Abend angekommen. Unsere zwölfstündige Fahrt von Charkiw führte uns über Poltawa, Dnipro, Krywyj Rih und Mykolajiw, auf Autobahnen, Landstraßen und durch Kontrollpunkte, bis wir gegen 22 Uhr endlich die „Perle am Schwarzen Meer“ erreichten.
Wir sind auf der ungewöhnlichsten Tour, die ich in meiner Musikerkarriere bislang erlebt habe. Unser Programm besteht aus den Vertonungen der Werke von Hryhorij Skoworoda, dem Vater der ukrainischen Philosophie aus dem 18. Jahrhundert, dessen Texte von Serhij Zhadan eigens aktualisiert wurden. Diese werden nun von uns im Chor gesungen, verstärkt durch Zhadans komplette Band.
„Die Welt wollte mich fangen, hat mich aber doch nicht erwischt“, ließ Skoworoda 1794 auf sein Grab schreiben. 229 Jahre später spürt man in der heutigen Ukraine, dass die Bemühungen, ihn zu erfassen, nicht nachgelassen haben. 2022 wurde das nach Skoworoda benannte Pädagogische Institut in Charkiw heftig bombardiert. Im Frühling zerstörten russische Raketen sein Museum in Skoworodyniwka, dem Dorf, in dem der Philosoph die letzten vier Jahre seines Lebens verbracht hat.
Ursprünglich hätten wir dort unser Album „Skovorodance“ am 14. Oktober aufführen sollen, jedoch wurde wenige Tage zuvor die schwierige Entscheidung getroffen, die Veranstaltung abzusagen. Es war einfach zu nah an der russischen Grenze und somit zu gefährlich. Einer unserer Techniker erklärte mir: „Wenn etwas in diese Richtung abgeschossen werden sollte, vergehen keine 10 Sekunden, bis es einschlägt. Und einen Schutzbunker gibt es dort auch nicht.“
Ich war lange nicht mehr in Odessa und habe leider nicht viel Zeit bis zum Soundcheck – Konzerte in der Ukraine beginnen heutzutage früh, damit die Besucher rechtzeitig vor der Sperrstunde noch nach Hause zurückkehren können.
Beim Spaziergang fällt mir auf, dass sich die Stadt in den letzten Jahren kaum verändert hat. Und doch hört man auf den Straßen nicht mehr ausschließlich Russisch, sondern gelegentlich auch Ukrainisch. An den Gebäuden im Stadtzentrum, die an die prachtvollen Alleen von Paris oder Rom erinnern, sind häufig gelb-blaue Fahnen zu sehen. Es scheint, als würde sich der Krieg tagsüber verstecken.
Vor einem Hipster-Café auf der Katerynynska, vor dem die bunt gekleidete Jugend ihren Flat White genießt, laufen zwei Soldaten in Uniformen vorbei. Direkt neben einem Plakat einer ABBA-Coverband hängt ein weiteres, das zu Spenden für militärische Ausrüstung aufruft. Auf dem Weg zum Konzert entdecke ich ein komplett zerstörtes Haus, das an diesem sonnigen Tag leicht surreal wirkt.
Auch hier wird unser Auftritt ein großer Erfolg. Als auf der Bühne aufgeräumt wird, bleiben wir noch lange, um Plakate und Bücher zu signieren, Selfies mit dem Publikum zu machen und ukrainische Volkslieder zu singen. Odessa, es war eine wundervolle Zeit mit dir! Morgen früh zieht die Karawane weiter.