Gläserne Frau mit empfindlicher Haut

Wäre die Dame aus Fleisch und Blut, würden wir sie heutzutage vielleicht als Risikopatientin bezeichnen. Nicht nur weil sie 87 Jahre alt ist und in ihrer Nähe das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgestellt wird. Schließlich ist die Protagonistin, um die es geht auch gar nicht lebendig, sondern besteht aus Kunststoff und Drahtbahnen.

Trotzdem ist die Gläserne Frau, eines von mehreren „gläsernen“ Menschenmodellen im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHMD), in ihrem Alterungsprozess bedroht und bedarf eines besonderen Schutzes.

Das 1935 gebaute Modell, das eine Dauerleihgabe des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin ist, besteht aus Material, das nicht für die Ewigkeit gemacht ist. „Zelluloseacetat zerstört sich selbst“, sagt Julia Bienholz-Radtke, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHMD. Zelluloseacetat reagiert mit der Luftfeuchtigkeit, schrumpft, vergilbt und sondert Essigsäure ab, die die Figur weiter angreift.

Klimavitrinen sind notwendig

Der Freundeskreis des DHMD hat nun eine Spendenaktion initiiert, deren Ziel die Sicherung der Gläsernen Figuren ist. Online können Bürger und Bürgerinnen für eine Klimavitrine und die benötigten Geräte spenden. Julia Bienholz-Radtke erklärt, dass in einer solchen Vitrine optimale Bedingungen hergestellt werden könnten.

Die Forschung am DHMD hat ergeben, dass die Gläsernen Figuren ein trockenes und kühles Klima brauchen. Damit startet das DHMD ein Pilotprojekt, vom dem es sich erhofft, mehr über die Figuren und ihren Erhalt zu lernen, da die historischen Exponate sich sonst selbst zerstören.

Dabei war Zelluloseacetat um 1900 eine bahnbrechende Neuerung. Erstmals gab es einen durchsichtigen Kunststoff, der Möglichkeiten bot, wo Glas und andere Materialien an ihre Grenzen stießen. Franz Tschackert, Präparator im Deutschen Hygiene-Museum, nutzte das Material, um 1927 einen anatomischen Menschen herzustellen: Durch die Kunststoffhaut hindurch konnte man auf Organe und Blutbahnen blicken.

Interessante Objekte der Gesundheitsgeschichte

Ab 1930 wurde bei der zweiten Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden ein Gläserner Mann der Öffentlichkeit präsentiert. Julia Bienholz-Radtke sagt: „Die Figuren sagen uns heute viel über die Gesundheitsgeschichte. An ihnen wurden aber auch politisch aufgeladene Themen verhandelt.“

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Denn die Exponate wurden im Dritten Reich weiter her- und ausgestellt, zum Beispiel bei Eugenik-Ausstellungen der Nationalsozialisten. Der schlanke Körper des Gläsernen Mannes, ohne erkennbare Beeinträchtigung, mit herrschaftlich gestreckten Armen passt gut in das Menschenbild, das die Nationalsozialisten mit ihrer rassistischen und ableistischen Auslegung von Biologie propagierten.

Trotzdem weist die Sammlungsleiterin für Alltagskultur Sabine Witt aus dem Berliner DHM darauf hin, dass das Interesse daran, ins Innere zu schauen, weit älter sei. „Die Darstellung hat etwas Anbetendes, das könnte auch auf die griechische Antike hinweisen.“

Die Modelle entstanden in einer Zeit, in der das Interesse an Wissenschaft groß war. „Die Gläsernen Figuren waren weltweit populäre Medien der Gesundheitsaufklärung“, sagt Julia Bienholz-Radtke. Rund 130 dieser Objekte seien insgesamt hergestellt worden, elf vor 1945, der anderen zu DDR-Zeiten. In den 1990er Jahren ließ das Interesse an ihnen nach.

Genderneutrales Anatomiemodell

In Dresden befinden sich noch zwölf Figuren, darunter die Leihgabe aus Berlin, eine Gläserne Kuh und eine Gläserne Schwangere. „Wir wissen von 80 Figuren, wo sie sind oder sein könnten“, sagt Julia Bienholz-Radtke. Im Rahmen eines Forschungsprojekt des DHMD waren die Figuren untersucht und unter anderem in den USA, Ägypten, der Slowakei und Norwegen aufgespürt worden.

Aber auch in Berlin liegt ein besonderes Exponat im Depot. „Unsere anatomische Figur hat keine Geschlechtsmerkmale“, sagt Sabine Witt. Die Figur war eine Sonderanfertigung für das Buffalo Museum of Science in den USA und kam 1989 nach Berlin. Witt sieht in ihr eine Bemühung um Neutralität, denn die inneren Organe, wo Witt, würden sich bei den Geschlechtern schließlich nicht unterscheiden. „1935 wurde aber noch nicht von diversen Geschlechtern gesprochen“, sagt Witt.

Da die Dauerausstellung im Berliner Zeughaus bis 2025 umstrukturiert wird, kann der Gläserne Mensch derzeit dort nicht gezeigt werden. Konkrete Pläne für eine Klimavitrine in Berlin gibt es noch nicht, man warte ab, wie das Pilotprojekt in Dresden laufe. Dort ist aktuell noch nicht ganz die Hälfte der notwendigen Gelder über Spenden zusammengekommen. Ab 18. Januar öffnet das DHMD erstmals wieder seine Türen. In Sachsen waren Museen pandemiebedingt seit Ende November geschlossen.