Kann man den Holocaust darstellen? : Kein Bild von der Gaskammer
Herr Kosakowski, zu Beginn von „Holofiction“ zitieren Sie den „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann, demzufolge sich jede Darstellung des Holocaust verbietet. Dennoch gibt es hunderte Holocaustfilme. Was brachte Sie auf die Idee, Ausschnitte daraus zu sampeln?
Eben dieser Widerspruch. Außerdem bin ich 1975 in Stettin geboren, als Kind sah ich im polnischen Fernsehen im Nachmittagsprogramm häufig osteuropäische Filme, die im KZ spielen, mit harten, grausamen Darstellungen. Die Bilder haben sich mir eingebrannt, auch die Erzählungen meiner Großeltern aus der Besatzungszeit. Als ich zehn war, zog meine Familie nach Wien, und ich stellte fest, dass die Bildsprache in den westeuropäischen Filmen über den Holocaust viel verhaltener war.
Sie sagen, kein historisches Ereignis wurde häufiger verfilmt als der Zweite Weltkrieg und der Holocaust. Wie sind Sie vorgegangen?
Ich schaute mir 20 wichtige Holocaustfilme an, darunter „Schindlers Liste“, „Das Leben ist schön“ und „Der Pianist“, um zu sehen, welche Bilder sich am häufigsten wiederholen, ob es eine Ikonografie der Shoah gibt. Nach diesen Motiven habe ich dann fast 3000 weitere Filme durchforstet.
Zu Beginn sieht man Szenen mit Grammophonen, es folgen Bürokratie-Szenen, Angst-Szenen, Güterwaggon-Szenen, Lager-Szenen, Blicke von Opfern, von Tätern … Haben Sie bei Ihrer Suche nach stereotypen Motiven KI genutzt?
Nein, ich habe viele Notizhefte mit Timecodes vollgeschrieben. Die Abfolge all dieser Motive ergab interessanterweise eine filmische Erzählung. Ich wollte das Systematische des Massenmords zeigen, das sich eben auch in der Fiktion vermittelt. Die Wiederholung macht kenntlich, wie der Holocaust funktionieren konnte.
Wenn wir dutzende Male sehen, wie Nazis in Wohnungen einbrechen, wird geradezu physisch spürbar, wie sie die heute grundgesetzlich garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung mit Füßen treten und wie man sich daran gewöhnt. Menschen werden registriert, Papiere werden gestempelt, Listen angelegt: Erst wird erfasst und gemessen, dann zerstört, gestohlen und gemordet. In der Häufung der Vorgänge begreift man deren Perfidie vielleicht mehr als in einem Film über ein einzelnes Schicksal.
Mich hat schockiert, wie sehr die Motive sich von den 1930er Jahren bis heute ähneln, bis zur Netflix-Serie „The Tattooist of Auschwitz“.
Michal Kosakowski, Filmemacher
Es geht Ihnen auch um die Vielzahl der Opfer?
Die Montage ist sehr schnell. Allein durch die Menge der Bilder wird erahnbar, was das bedeutet: sechs Millionen ermordete Juden, und Millionen weitere Opfer des NS-Regimes. Gerade heute, wo wieder auf starke Männer als vermeintliche Heilsbringer gesetzt wird, möchte ich, dass nicht vergessen wird, wie der Massenmord vor bald 90 Jahren begann. Die junge Generation ist mir wichtig, wir wollen „Holofiction“ auch in Schulen, Bildungseinrichtungen und Gedenkstätten zeigen.
Gab es Dinge, mit denen Sie nicht gerechnet haben?
Am meisten hat mich überrascht und auch schockiert, wie sehr die Motive sich von den 30er Jahren bis heute ähneln, bis zur Netflix-Serie „The Tattooist of Auschwitz“ von 2024.
Was mir außerdem auffiel: Viele Schauspieler verkörperten Opfer, als sie noch weniger bekannt waren, um später in ihrer Karriere Täter zu spielen. Zum Beispiel Ben Kingsley: In „Recht, nicht Rache“ von 1991 ist er als Simon Wiesenthal zu sehen, auch in „Schindlers Liste“ ist er ein Häftling. 2019, in „Operation Finale“, spielt er dann Eichmann. Oder Christoph Waltz: 1991 ist er Maximilian Kolbe in „Leben für Leben“, 2009 ein Nazi in „Inglourious Basterds“. Vielleicht muss man ja erst erfolgreich sein, um einen Täter spielen zu können.
Ein Bild aus der Gaskammer taucht in „Holofiction“ nicht auf. Tatsächlich ein Tabu?
Es gibt zwei, drei Versuche, etwa in „Auschwitz“ von Uwe Boll oder in „Kornblumenblau“, einem polnischen Film von 1989. Aber es sind keine ikonografischen Bilder, deshalb zeige ich sie nicht. Dominique Lanzmann, die Witwe des Regisseurs, sagte übrigens, nachdem sie „Holofiction“ gesehen hat: „Lanzmann hatte Recht“. Die Shoah entzieht sich der Darstellbarkeit, am meisten der Innenraum einer Gaskammer.
Die Szenen mit dem Auschwitzorchester oder KZ-Häftlingen, die zur Unterhaltung aufspielen, sind mit geräuschhaften Sounds unterlegt. Sonst wird die Montage von teils orchestraler Filmmusik zusammengehalten.
Sie stammt von Paolo Marzocchi, wir arbeiten seit fast 25 Jahren zusammen. Er nahm zwei Lieder zur Grundlage: „Wiegala“, ein von Ilse Weber im KZ Theresienstadt komponiertes Hoffnungslied für die Häftlinge, und „Ich hab‘ kein Heimatland“, ein jüdischer Tango von Friedrich Schwarz, der sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm.
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