Deutsch-Pop-Newcomerin Becks: Flügel auf und hoch hinaus mit queeren Songs
Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht muss ich mich anpassen. Vielleicht muss ich echt nur die richtige Person treffen – ein klassischer Gedankenkreisel im Kopf eines queeren Kleinstadt-Teenagers. Sängerin Becks kennt das, die 24-Jährige ist in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Düren aufgewachsen und fühlte sich in ihrer Teenagerzeit ziemlich allein mit ihren Gefühlen.
„Meine Freundinnen haben die ganze Zeit nur von Typen geredet. Da konnte ich nicht sagen: Ich glaube, ich stehe auf eine Frau“, erzählt sie beim Gespräch auf der überdachten Terrasse des Literaturhauses in Charlottenburg. Es ist ein regnerischer Mittag, aber nicht kalt.
Der Regen gefällt ihr, sein Rauschen begleitet ihre Erinnerungen an ihr Coming out, das sie vor vier, fünf Jahren hatte. „Ich habe meinem letzten Freund gesagt, dass ich lesbisch bin. Es war das erste Mal, dass ich es ausgesprochen habe.“ Danach gab es kein Zurück mehr, was Becks auch äußerlich deutlich machte.
Sie warf ihre alten Klamotten weg, besorgte sich weite Sachen, schminkte sich nicht mehr und ließ sich die Haare kurz schneiden. Eine Befreiung – endlich habe sie sich „so richtig wohlgefühlt“. Dabei war auch wichtig, dass sie neue Freund*innen fand. Nicht in Düren, sondern in den Sozialen Medien, die sie als Zuflucht bezeichnet. Denn hier erkannte sie, dass nichts an ihr verkehrt ist und es eine Menge Leute gibt, die ähnlich fühlen.
Einige hundert davon sind am letzten September-Samstag – ganz analog und real – auf dem Lollapalooza Festival dabei, als Becks dort mit ihrer Band auftritt. Warmherziger Applaus begrüßt sie, ein Mädchen mit Glitzer im Gesicht filmt konzentriert mit, auf den Schultern eines Erwachsenen sitzend. Als drittes spielt Becks den Song, mit dem ihre Karriere Anfang 2021 begann: „Chemie“ war zunächst nur ein im Kinderzimmer mit dem Telefon aufgenommener Schnipsel, der allerdings schnell viral ging.
Das fiel auch dem Majorlabel Warner auf, das Becks kurzerhand einen Vertrag gab und sie den Song mit der hüpfenden Bassline nochmal professionell im Studio aufnehmen ließ. Seither sind eine Handvoll weiterer Lieder herausgekommen, eine EP erscheint am 11. November, während Becks auf ihrer ersten Tour ist.
Warner hat mit Wilhelmine, deren Debütalbum „Wind“ gerade erschienen ist, noch eine weitere offen lesbische Deutsch-Pop-Sängerin im Programm. Allerdings geht es in deren Texten meistens ganz allgemein um die Liebe.
Becks, die bürgerlich Rebecca Thomalla heißt und kein Problem damit hat, dass ihr Künstlerinnenname wie eine Biermarke klingt, hält sich von klassischen Liebesliedern fern und widmet sich lieber dem Politischen im Privaten. Etwa wenn sie „Chemie“ mit diesen Zeilen eröffnet: „Was ist so falsch dran/ Dass ich ‘ne Frau liebe anstatt ‘n Mann?/ Tu’ ich dir weh damit?/ Wenn du wüsstest, wie oft ich schon deswegen litt“.
Beim Lollapalooza Festival singen die Fans den kompletten Text mit. Zu Becks auf die Bühne gesellt hat sich derweil ihre Verlobte Defne, die ebenfalls mitsingt und bei der Zeile „Nein, ich bin keine Lücke für deine Fantasie/ Und irgendwann gehe ich für sie safe auf die Knie“ genau das tut. Die beiden haben sich in den Sozialen Medien kennengelernt, Becks erste Nachricht an die Influencerin lautete „Heirate mich“, wie sie grinsend erzählt.
Den Antrag habe später dann aber Defne gemacht. Deren Gesicht ist auf einem der vielen Tattoos auf Becks Haut zu sehen, sie taucht auch in einigen ihrer TikTok-Clips sowie dem Video zur tollen Ohrwumsingle „Blutmond“ auf. Mit dem Heiraten wollen die beiden noch ein bisschen warten. Becks erzählt, dass sie sehr gern „meine Verlobte“ sagt – das klinge „so Premium“. Seit letztem Dezember wohnt das Paar in Berlin, auch Becks kleiner Hund gehört zum Haushalt.
Häufig mischt die Sängerin englische Wörter und Halbsätze in ihren Redefluss – wie auch in ihre Texte. In „Avatar“ singt sie etwa davon, gern „baggy“, also weit geschnittene Kleidung einzukaufen. Und den Refrain hat sie sich zum Teil beim russischen Popduo t.A.T.u. und dessen größtem Hit „All The Things She Said“ ausgeliehen, allerdings mit einen neuen Dreh. „All the things you said, all the things you said/ Bleiben nicht im Head, bleiben nicht im Head, nicht in mei’m Head“, singt Becks und weist damit die unzähligen Kommentare zu ihrem Äußeren zurück, die sie tagtäglich bekommt.
An manchen Tagen fehlt ihr allerdings die Kraft dafür. „Ich bin in letzter Zeit öfter mit Perücke rausgegangen, weil ich es mir nicht geben konnte, blöd angemacht, angeguckt oder misgendert zu werden.“ Wobei sie sich in einer solchen Verkleidung natürlich nicht wohl fühlt. Es ist eine Abwägung – auch wenn sie mit Defne unterwegs ist, überlegt sich Becks genau, ob es sicher ist, deren Hand zu halten. Die beiden haben schon einige unschöne Situationen erlebt.
Die vielen Nachrichten über queerfeindliche Übergriffe in der jüngsten Zeit machen Becks wütend und traurig, wie sie sagt. Ob sie darüber mal ein Lied schreiben wird? Vielleicht, aber ein Schnellschuss dürfe das nicht sein, sondern ein richtiges Statement. Für ihre queeren Fans da zu sein, Themen anzusprechen, die sonst kaum in deutschen Popsongs vorkommen, das ist Becks wichtig.
Auch über mentale Gesundheit – die Sängerin lebt mit einer Depression – spricht sie offen und tauscht sich auf den Sozialen Medien mit ihren Follower*innen aus (auf TikTok mehr als 750.000). „Mir haben schon Leute geschrieben und auch persönlich gesagt, dass ich ihnen das Leben gerettet habe. Das bricht mir echt das Herz“, sagt Becks. Es sporne sie aber auch an, selbst nicht aufzugeben.
Einige Tage vor dem Gespräch war die Sängerin bei ihrer ersten Therapiestunde. Eine neue Erfahrung, genau wie die jetzt anstehende Tour, für die sich Becks unter anderem von Billie Eilish inspirieren lässt. Sie gerät ins Schwärmen, wenn sie von der Kollegin spricht, deren Karriere sie von Beginn an verfolgt und deren Berlin-Auftritt im Sommer sie komplett begeistert hat.
„Ich habe drei Tage geweint danach“. Ihre Fans in einer ähnlichen Weise zu berühren, das wünscht sie sich. Große Ziele! Wie singt Becks in „Kleinstadt“, ihrer am Freitag veröffentlichten Single: „Flügel auf, will hoch hinaus/ Ich bin zu groß für die Kleinstadt/ Will bis zum Horizont und weiter.“
Mit ihrer Stimme fliegt sie jedenfalls schon weit in die Höhe, das ist eines ihrer Markenzeichen. Sang sie einst mit ihrem Vater, der ihr das Gitarrespielen beibrachte, in der Kleinstadt-Küche, steht sie jetzt in großen Städten auf der Bühne. Zum Glück hat sie sich damals nicht angepasst – und den Weg aus dem Gedankenkreisel gefunden.
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