Im eiskalten Wasser der Erinnerung
Beim Kindergeburtstag passiert es. Der zwölfjährige Armin nimmt die Hand der siebenjährigen Sara, die sich leicht am Finger geschnitten hat. Er inspiziert die Stelle und veranstaltet anschließend eine kleine Fragestunde mit ihr. Was ist ihre liebste Farbe, Form, Jahreszeit etc. Sara antwortet und ist verzaubert.
Hier in der Ecke neben ihrem Tortentellerchen meint jemand nur sie – und macht sie durch die Fragen zu einer Person. Jemand mit Lieblingsalbum und Lieblingsbuch. Zur Magie, die von Armin ausgeht, trägt entscheidend bei, dass er keine Angst vor seiner jüngeren Schwester Lejla hat. Sie ist zwar Saras beste Freundin, doch irgendwas an ihr verunsichert Sara.
Eine Fahrt von Mostar nach Wien
Über zwei Jahrzehnte später schaut Sara als Ich-Erzählerin von Lana Bastašić’ Debütroman „Fang den Hasen“ auf diese Freundschaft zurück. Die Bosnierin lebt inzwischen in Dublin, arbeitet als Übersetzerin und Lyrikerin, wohnt bei ihrem Freund Michael – einem irischen Programmierer – und hat ewig nichts von Lejla gehört.
Bis plötzlich das Telefon klingelt: „Armin ist in Wien“, sagt die vertraute Stimme. Und: „Du musst mich abholen kommen.“ Armin ist das Zauberwort, kurz darauf macht Sara sich auf den Weg nach Mostar, wohin Lejla aus ihrer Heimatstadt Banja Luka gezogen ist. Sie arbeitet jetzt als Kellnerin, hat einen komischen Mann und trägt die schwarzen Haare blond gefärbt.
Die Kapitel handeln abwechselnd von Jugend der beiden Frauen und der Autofahrt. Wobei bald klar wird, dass Sara keine sonderlich vertrauenswürdige Erzählerin ist. Immer wieder kommentiert sie ihren Bericht in zweifelndem Ton und macht deutlich, wie schwer es ihr fällt, zurückzuschauen.
Einmal vergleicht sie das Erinnern mit einem zugefrorenen See, „an dessen Oberfläche sich von Zeit zu Zeit ein Riss auftut, durch den ich meine Hand stecken und ein Detail, eine Erinnerung im kalten Wasser fassen kann. Doch zugefrorene Seen sind heimtückisch. Mal erwischt man einen Fisch, ein anderes Mal bricht man ein und ertrinkt.“ Geht es um Lejla fühlt sich Sara mehr wie eine Ertrinkende als eine glückliche Fischerin, weshalb sie zwölf Jahre lang versucht hat, nicht an sie zu denken.
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Doch jetzt fährt sie mit Lejla in einem Opel Astra, durch Bosnien und ist tief drin im See. „Das Wasser war vertraut und eiskalt.“ Bastašić gelingt es sehr gut, die immense Spannung im Innern des Wagens greifbar zu machen. Eine Mischung aus tiefem Ver- und noch tieferem Misstrauen. Ein toxisches Ungleichgewicht, das sich immer wieder explosionsartig löst. Die Ursachen dafür sind in der Geschichte der beiden Frauen zu finden, in der Geschichte ihrer Heimat.
Als sie sich am ersten Schultag kennen lernen, sind sie noch Jugoslawinnen, mit dem Beginn des Bosnienkrieges, sie kommen gerade in die die Pubertät, verläuft plötzlich eine Grenzlinie zwischen Saras serbischer und Lejlas bosniakischer Familie. Im mehrheitlich serbischen Banja Luka bekommt es Lejlas verwitwete Mutter mit der Angst zu tun, weshalb sie ihren Nachnamen und die Vornamen der Kinder verändert. Aus Lejla wird Lela und aus Armin Marko.
[Lana Bastašić: Fang den Hasen. Roman. Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2021. 336 S., 22 €.]
Es bringt nichts. Die Zeichen stehen auf Hass und Ausgrenzung. Vor Lejlas Haus liegt irgendwann ein Kothaufen. „Es gab immer mehr Dunkelheit, immer mehr abgesagte Schulstunden, immer mehr Gebete in den Tageszeitungen“, erinnert sich Sara. Die Lehrer schreiben plötzlich nur noch kyrillisch, überall tauchen Kreuze auf. Auf mysteriöse Weise sterben alle Hunde in der Gegend. Kurz darauf verschwindet der 16-jährige Armin.
Lana Bastašić, die 1986 in einer serbischen Familie in Zagreb zur Welt kam und in Bosnien aufwuchs, erwähnt den Krieg nur beiläufig. Weit mehr Raum nehmen die ersten Monatsblutungen von Lejla und Sara, ihr erster Sex mit zwei Mitschülern und der Erwerb des titelgebenden Hasen ein. Dennoch ist klar, dass durch den Konflikt die tektonischen Platten zwischen den Freundinnen auf fatale Weise verschoben wurden.
Auf leicht verstörende Weise mitreißend
Bei Sara, der Tochter des damaligen Polizeichefs, hat das zur Ablehnung ihrer Heimat und ihrer Muttersprache geführt. Aus dem Flugzeugfenster schauend beschreibt sie den unter ihr auftauchenden Balkan als düsteres Farbenspiel. „Ein schwerer Grünton, wie vergessene Paprika, trocken und runzlig, die niemand mehr isst. Ein schales Braun, das sich weiterschlängelt wie ein toter Fluss nach der Apokalypse. Die Farbe einer Mumie, durch Maden von innen zerfressen.“
Wie an dieser Stelle neigt Bastašić mitunter zum Vergleichs- und Metaphernoverkill. Doch dem Flow ihrer Prosa, der auf leicht verstörende Weise mitreißend ist, kann das letztlich nichts anhaben. Man hängt gebannt an den Zeilen ihrer Erzählerin mit dem schlechten Gedächtnis – und glaubt ihr alles.