Filmfestival „Unknown Pleasures“: Mit dem Handy geht auch der Bezug zur Realität verloren
Auch im Kino ist der Riss zu spüren, der sich durch das amerikanische Selbstbild zieht – abhängig davon, ob man das Land noch aus der Perspektive des späten 20. Jahrhunderts betrachtet oder bereits im neuen Millennium geboren wurde.
Die 14. Ausgabe des inzwischen traditionellen Neujahrsfilmfestivals „Unknown Pleasures“, das sich der Entwicklungen im unabhängigen amerikanischen Kino annimmt, versammelt ein paar Impressionen der gegenwärtigen GenZ-Mentalität, die – je nach Küstenlage – ein beunruhigendes beziehungsweise ein jedem Zeitgefühl enthobenes Fuck-You-Stimmungsbild entwerfen.
Ostküste gegen Westküste
An der Ostküste hat der angesagte Kameramann Sean Price Williams („Good Time“) mit seinem Regiedebüt „The Sweet East“ eine Mischung aus Farce und Stationendrama gedreht, das seine junge Heldin (Talia Ryder aus „Niemals Selten Manchmal Immer“) bei einem High-School-Ausflug in die Hauptstadt auf eine grotesk-albtraumhafte Odyssee schickt.
Auf ihrer Reise, auf der sie mit ihrem Handy auch den letzten Bezug zur Realität verliert, macht Lillian unter anderem Bekanntschaft mit einem irren Vigilanten, der der Pizzagate-Verschwörungstheorie anhängt, und einem Uni-Professor mit Naziflaggen im Büro (der sonst aber eigentlich ganz nett ist). Der Sturz dieser GenZ-Alice in ein fantasmagorisches Kaninchenloch entblößt die faszinierend-hässliche Unterseite Amerikas.
Das deutlich optimistischere, weil noch von einer jugendlichen Abenteuerlust getriebene Westküsten-Pendant ist Bill und Turner Ross’ zweiter Film „Gasoline Rainbow“ über eine Gruppe von Schulfreunden, die sich aus ihrem Heimatkaff in Oregon in einem Van in Richtung Pazifik aufmachen.
Anklänge an Andrea Arnolds „American Honey“ sind keineswegs zufällig, Musik, Drogen und das Draußen-Sein aus der Gesellschaft versetzen den Film mit seinen improvisierten Dialogen in einen fast transzendenten Zustand. Was nicht einmal etwas damit zu tun hat, dass in beiden Porträts von Amerika – dramaturgisch gesprochen – der Weg das Ziel ist.
Am anderen Ende des Spektrums, altersgemäß und geografisch, steht in „Unknown Pleasures“ der 44. Film von Frederick Wiseman. Der Dokumentarfilm-Verist wirft in seinen amerikanischen Arbeiten einen Blick auf die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen seines Landes; in seinen europäischen Produktionen widmet sich der schon lange in Frankreich lebende Wiseman eher kulturellen Traditionen wie dem Museum und der Oper. Im vierstündigen „Menus Plaisirs“ begleitet er nun zwei Generationen der Gastro-Dynastie Troisgros, die seit 35 Jahren in einer pastoralen Region Frankreichs ein Drei-Sterne-Restaurant mitsamt kleinerer Ableger betreiben.
Es geht Wiseman dabei aber weniger um – wie im Gastro-Whodunnit „The Menu“ – eine cinephile Form von Food Porn, vielmehr um das Verhältnis von Produktion, Anbau und (Küchen-)Technik. Die Frage, wer sich dieses gehobene Angebot – selbst der 65-jährige Patriarch schüttelt bei fünfstelligen Preisen für eine Flasche Burgunder kurz mit dem Kopf – überhaupt leisten kann, beantwortet der akribische Wiseman mit einer kurzen Einstellung auf den Helikopterlandeplatz des Restaurants.
Da schwebt für einen Moment ein Hauch von „Succession“ in diese kulinarische Idylle ein. Aber das Handwerk, mag es auch noch so weit weg sein von den basisdemokratischen Prinzipien, die Wisemans Kino sonst informieren, entlockt Staunen und Bewunderung, keinen Zynismus oder gar Reichenbashing á la „White Lotus“. Das wäre dann wohl eher die amerikanische Variante.