Es scheint, dass wir gewinnen
Oles Barleeg ist ein Lyriker, Prosaautor und Dramatiker, er lebt in Saporischschja. Er ist Autor des Lyrikbandes „Genuss eines imaginären Todes“ (2012) und eines Bandes queerer Stücke (2017). Zudem ist Barleeg Preisträger des Dramenwettbewerbs „Drama.UA-2012“ mit dem Stück „Die Bäume kommen zu spät zum Bus“ über den Holodomor in der Ukraine 1932-33, Stalins Hungerkrieg, bei dem Millionen Menschen starben. Sein hier abgedruckter Text wird am 7. April bei der Veranstaltung „Vom Krieg“ im Maxim Gorki Theater Berlin gelesen und am 9. April in den Münchner Kammerspielen bei der Solidaritätsveranstaltung mit Texten der Dramatiker*innen des Kyiver Theatre of Playwrights.
Tamara sagt: „Ich verstehe nicht, warum alle schreiben, dass heute Sonntag ist, wenn gestern Mittwoch war.“ Ich konnte mir Daten schon immer schwer merken. Ich bin wie dieser Mann aus den Witzen, der es gerade so schafft, den Geburtstag seiner Frau nicht zu vergessen. Von Feiertagen erfahre ich über Facebook. Und wenn ich es mal nicht rechtzeitig gelesen habe, dann erstarre ich bei einem Glückwunsch kurz, als wäre ich ertappt worden. Wie dieser Russe, der irgendwo auf der Straße enttarnt wurde, weil er das Wort „Paljanyzja“ nicht aussprechen konnte.
Heute ist also Vergebungssonntag. Ein Strom menschlicher Stimmen redet von Vergebung. Nun, die Mehrheit redet gerade davon, dass sie das nie tun werden. Es wirkt fast wie ein nationaler Wettbewerb: Argumentiere, warum gerade du am wenigsten von allen vergeben wirst. Aber da gibt es Verschiedenes. Sascha sagt: „Tötet die Feinde nicht aus Hass, sondern aus Liebe zur Heimat.“ Mir wird klar, dass ich kaum Hass oder Zorn auf die Feinde verspüre. So wie es mir schwerfällt, Heuschrecken zu hassen. Die sind so geschaffen – kommen und fressen deine ganze Ernte, für die du geschuftet, Schweiß und Blut vergossen hast für dein künftig Brot. Und die Russen sind wohl mit dem Gefühl geschaffen, dass all das ihr gutes Recht ist.
Weil sie mit ihrer Wahrheit auf die Welt gekommen sind. Die saugen sie mit der Muttermilch auf. Die fließt durch ihre Adern. Und selbst wenn jemand plötzlich beschließen sollte, sich davon Stück für Stück zu befreien – sie sitzt tief. In den Zellen des Körpers. Zwischen den Molekülen. Die menschenfressende Wahrheit vergeht nicht einfach so. Die braucht ihre vierzig Jahre Wanderung durch die Wüste. Damit nicht diese, sondern schon ganz andere Menschen sich nicht mehr an die Unterdrückung ihres Giftes erinnern.
Wir wurden ausgelacht
Das Schlimmste ist, dass sie schon morgen der Welt die Ohren volljammern werden. Dass sie doch nur Geiseln dieser Wahrheit waren und keine Henker in ihrem Dienst. Und die Welt wird diese Täuschung vom Ohr zum Herzen tragen und nicken, als Antwort nicken. Glauben, dass man zugleich Häftling eines Konzentrationslagers und dessen Aufseher sein kann.
Ungeachtet dessen, was am Vortag des 24. Februar gesagt wurde: Durch die zerbombten Mauern friedlicher Städtchen glotzen uns die Puschkinler, Dostojewskiler und Tolstoiler an. Glotzt dieser ganze Mief und Schatten ihrer Schuld für die Jahrhunderte, die sie unsere Knochen zermalmt haben.
Maria sagt: „Durch Ihre Bomben ist ein kleiner syrischer Junge gestorben. Und er sagte, er würde Gott erzählen, wie Sie sind. Nun ja. Er hat es gehört.“ Nein, nicht diese Maria – eine andere, eine Lehrerin aus einem Dorf in der Nähe von Kyjiw. Ich überlege, warum die Wut überkocht, aber ich habe kein Recht darauf, während gerade irgendwo unsere Mitmenschen umgebracht werden und unter den Trümmern von Häusern nach Kinderleichen gesucht wird. Wut darüber, dass ich in den letzten Jahren eine der trojanischen Kassandras war, die herumgelaufen sind und von den Tolstoilern und Puschkinlern geredet haben, die euch das Lachen nehmen wollen. Den Glanz von euren Augen wischen. In eure Häuser kommen und dort bleiben in dem aufrichtigen Glauben, dass sie schon immer hier gewesen sind. Denn das ist ihre Wahrheit, eine andere haben sie nicht.
Aber wir wurden ausgelacht und uns wurde gesagt, wir seien schwach, blind, geblendet von unserem eigenen Schatten, Zorn und Schmerz. Am Morgen liest du die Nachrichten über elf von den Russen vergewaltigte Frauen in Cherson. Eine hat nicht überlebt. Eine andere wurde wieder zusammengeflickt.
Stachel der Angst in deinem Körper
Und du wünschst dir nur, dass das eine Lüge ist. Bis zum Abend trägst du diesen Stachel der Angst in deinem Körper. Und am nächsten Tag liest du: „Die Nachricht über die Fälle von Vergewaltigung in Cherson wurde nicht bestätigt.“ Und es scheint, dass dir dein Körper vor Freude für einen Moment entgleitet.
Du wirst schwerelos. Und möchtest den Menschen küssen, der das gerade geschrieben hat. Denn man muss gierig nach Freude sein, während Verzweiflung die Erde erschüttert. Gierig nach dem kleinsten Krümel Freude. Natalia schreibt: „Heute Nacht hätte ich beinahe die Kinder ins Badezimmer geschleppt, um sie in Sicherheit zu bringen. Ich dachte, die Sirenen heulen. Aber es waren die Katzen. Es ist März.“
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Ich glaube, der Frühling hat früher begonnen, weil er vom Herannahen zerbombter Städte geweckt wurde. Es zog irgendwo vom Horizont herauf. Noch war nichts passiert, aber das Echo zwischen den Zeiten, das sich als unmerklicher dünner Faden zwischen heute und dem, was in einer Woche passieren würde, spannt, legte sich schon auf die Schultern. Schlug alles wach, was sorglos im Boden schlief. Und diese ersten Schneeglöckchen, die eilig aus dem Boden krochen, erfreuten nicht die Bienen, sondern öffneten ihre weißen Mäulchen und riefen uns mit aller Kraft zu: „Kommt zur Besinnung!“
Täglich gehen Freunde weg
Der Plan war, die Frühlingsgarderobe zu erneuern. Ein ausgefallenes Menü zum Saint Patrick’s Day zusammenzustellen. Und nicht zu vergessen, einen Frisörtermin zu vereinbaren, denn vor dem 8. März rennen alle los, um sich schön zu machen, und du hast eine Matte auf dem Kopf. Jetzt schneit es den dritten Tag. Und du hast immer noch eine Matte auf dem Kopf.
Zwei Blocks von meinem Haus entfernt steht noch derselbe Wegweiser wie 2014: „Nach Donezk …“ Mein Gott, wie weit? Etwa 200 Kilometer. Dieselbe Metalloberfläche, blau lackiert. Dieselbe Aufschrift. Nur dass daneben jetzt aus Schienen gelötete menschengroße Panzerigel stehen. Täglich gehen Freunde weg. Und schreiben nach zwei Tagen, wie es ihnen geht.
Du googelst unbekannte Namen von Städten am anderen Ende des Landes, um zu wissen, wo sie sind. Vor zwei Jahren gingen meine Frau und ich die Straße entlang und erinnerten uns daran, dass wir bei solchen Spaziergängen 2014 versucht haben uns vorzustellen, wer von den entgegenkommenden Menschen losrennen würde, um uns auszuliefern, wenn die russischen Besatzer in die Stadt kämen. Dann haben wir während der Pandemie versucht uns vorzustellen, wer von diesen Leuten, wenn wir Corona bekämen, unsere Tür vernageln und das Haus in Brand setzen würde.
Die Stadt gleicht einem Igel
Und jetzt … jetzt gleicht die Stadt einem Igel, der seine Stacheln ausgefahren hat. Die Menschen graben Gräben. Bauen Barrikaden. Suchen in allen Ritzen nach Resten, die zu einem Bandera-Smoothie taugen. Der Stadt nützlich zu sein bedeutet, eine zusätzliche Überlebenschance zu haben.
Und die Stadt sieht uns alle auf einmal. Wie der Blick eines Insekts aus einem Dokumentarfilm, den ich vor langer Zeit gesehen habe. Jedes Gesicht eine Ikone. Wie ein Passfoto. Gleich neben dem Foto einer anderen Person. In verschiedenen Farben beleuchtet. Von der Stadt danach sortiert, wie viel die Person jeweils in sie investiert hat. Nicht aus einem alltäglichen Bedürfnis heraus. Sondern aus dem Verständnis, dass die Stadt sehen, fühlen und sich erinnern kann. Roman sagt: „Woher wissen wir, dass die Ukrainer gewinnen? Sie fangen wieder an, sich zu streiten.“
Bei der Nachbarin nebenan pfeift der Teekessel. Schon den dritten Tag keine Sirenen, aber du bekommst Angst. Und dann denkst du, es wäre besser, wenn das die Katzen vor den Fenstern wären. Es scheint, dass wir gewinnen.