Das Karate Kid aus dem Kiez
Kumite nennt man im Karate eine Wettkampfform, in der sich zwei Gegner ohne Absprache der Techniken gegenüberstehen. Nico, die Hauptfigur des gleichnamigen Debütfilms von Eline Gehring, lernt Karate im Neuköllner Dojo von Andy, und ihr Lieblingskumite ist einer, bei dem die Abwehr eines Angriffs direkt in einen eigenen Vorstoß umgewandelt wird.
Ihre eigene Geschichte ist in dieser Kampffigur schon enthalten. Der Angriff auf die junge Altenpflegerin kommt quasi aus dem Nichts: von einer Dreiergruppe unter einer S-Bahnunterführung halbtot geschlagen, muss sie mühsam die Ohnmacht und Wut in etwas transformieren, das ihr die versperrten, so selbstbewusst erkämpften Räume wieder öffnet und sie wieder zur Erzählerin ihrer Geschichte werden lässt.
„Nico“ wird gemeinschaftlich erzählt. Schauspielerin Sara Fazilat war genauso am Drehbuch beteiligt wie Kamerafrau Francy Fabritz und Regisseurin und Editorin Eline Gehring. Ein weibliches Kollektiv, das diesen Film an der Dffb realisierte, die immer noch als Bastion des deutschen Autor:innenfilms gilt, obwohl das Trio in seinen vorherigen Kurzfilmen eher durch Genre-Affinität aufgefallen ist.
Auch „Nico“ verschwendet nicht viel Zeit mit aufwendigen Bildkompositionen und ausgefeilten Dialogen. Der Film ist ökonomisch geschnitten, weitgehend improvisiert, nutzt die Berliner Straßen als Setting, er reagiert schnell. Fazilat hat ko-produziert, ihre Firma heißt Third Culture Kids. Sehr beiläufig ist der Film auch Ausdruck einer Drittkultur, in der Figuren, die in einem anderen Land aufwachsen als ihre Eltern, einen eigenen Raum, eine Community bilden, die jederzeit Angriffen ausgesetzt sein kann.
Erfahrungen, sexistisch und rassistisch grundiert
Der öffentliche Raum, in dem sich das Trauma ereignet, wird sehr nebenbei, wohl aus Erfahrung, als sexistisch und rassistisch grundiert gezeigt. Übergriffe gibt es eigentlich ständig: von einer Autofahrerin, von Männern, die den jungen Frauen ständig zu nah kommen, von der Schlägergruppe, die ihre anfängliche Pöbelei gegen Nico unter rassistischen Schmährufen eskalieren lässt. „Ich bin dein Freund!“, brüllt Andy (Andreas Marquardt) seine Schülerin an. Marquardts eigene gewaltgeprägte Geschichte ist spätestens seit ihrer Verfilmung durch Rosa von Praunheim in „Härte“ bekannt. Sich niemals mehr weh tun lassen, bringt sein Alter Ego im Film ihr bei, durch Stärkung des Willens – und der Bauchmuskeln.
Der Film hilft ihr mit einfachen, effektiven Mittel: die Welt, nach dem Überfall zu einem verschwommenen Grau verzogen und stets latent feindlich anmutend, wird scharf, sobald Nico sich wieder zu öffnen lernt; die chaotische Geräuschkulisse auf der Tonspur sortiert sich, ihre betagten Klienten mit hohem Blutdruck machen ihrerseits Tempo: „Det Leben is zu kurz für son langet Jesicht.“ Und dann gibt es da noch Ronny (Sara Klimoska), die beim Rummel arbeitet, keine Papiere hat, und deren offener Blick Nico und ihrer Freundin Rosa (Javeh Asefdjah) im Spiegelkabinett völlig neue Perspektiven eröffnet.
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Diversität im deutschen Film steht gerade als Imperativ in vielen Gesprächsrunden und Fördervorgaben. Die Bauchmuskeln der Branche sind, in Erwartung von Kritik und geäußerten Erfahrungen von Betroffenen, deren Realität endlich sichtbar werden soll, durchaus angespannt. Da trifft ein kleiner und entschiedener Film wie „Nico“ eine weiche Seite. Die physische Performance von Sara Fazilat wurde zurecht ausgezeichnet, „Nico“ erhielt Debütfilmpreise, unter anderem den First Steps Award.
Wir sind doch alle „Kultimulti“
Es sitzt einfach, wenn Fazilat und Asefdjah über das leidige Kopftuchthema improvisieren, während zwei Passantinnen in ihr auf türkisch geführtes Gespräch deutsche Wörter wie „Dildo“ fallen lassen; wenn eine der Seniorinnen sich als „Kultimulti“ bezeichnet oder Nico und Rosa immer wieder auf Farsi ihre weiße Umwelt kommentieren.
(In neun Berliner Kinos)
Jedes ernsthafte Interesse an Diversität im deutschen Kino muss sich aber an den Weichenstellungen für weitere Produktionen der drei Autorinnen messen lassen, an größeren Budgets und am Vertrauen, dass man Filmstoffe entwickeln könnte, die ebensowenig Problem- oder Milieufilme sind. Und die nicht nur Themen für generische TV-Formate liefern, sondern eigenwillige, als cinephile Kampfkunst den Kinoraum anspielende Herausforderungen sein dürfen, von Menschen, die wissen, wovon sie erzählen.
Denn, mit den Worten von Andreas Marquardt: „Jeht allet!“ Im Abspann holt „Nico“ dann noch zu einem letzten Schlag aus, einem Schlager: Es läuft „Sage Nein!“ von Konstantin Wecker – und mahnt Zivilcourage an. Auch das sitzt, vielleicht etwas zu deutlich.