Pianosalon Christophori: Vorantasten im Wedding

Schon von fern sind Klavierklänge zu hören. Hinter der massiven Stahltür der Werkhalle in Berlin-Wedding begrüßt ein netter Herr mittleren Alters seine Gäste. Wer sich hierher begibt, der erliegt sogleich dem Industrie-Charme des „Piano Salon Christophori“. Ringsum wuchert eine wilde Sammlung von Klavierinstrumenten aller Couleur, Klavierdeckel, Pedal-Lyras, Pulte und Kerzenständer türmen sich an den Seiten, während Künstlerporträts die Wände überziehen. Gerade wird noch ein Flügel auf der provisorisch anmutenden Holzbühne hergerichtet. Davor stehen lose gereiht bunt zusammengewürfelte Sessel und Stühle.

Vielleicht sah es 1838 ganz ähnlich aus in der Klavier- und Musikwarenhandlung von Friedrich Wieck, Robert Schumanns Leipziger Lehrer. In diesem Jahr brachte Schumann binnen weniger Tage seine „Kreisleriana“ zu Papier. Christian Budu setzt das Werk ins Zentrum seines Klavierabends. Literarische Vorlage für den Zyklus ist E.T.A. Hoffmanns Figur des genialischen Kapellmeisters Johannes Kreisler, dessen Exzentrik im Wahnsinn mündet.

Eine feste Adresse in der Szene

Für den ersten Teil hat Budu einen historischen Erard-Flügel gewählt, auf dem er es meisterhaft versteht, plastische Gestalten aus dem Nebel heraus zu materialisieren, oder aber Motivfetzen spukhaft im Zwielicht verschwinden zu lassen. Der junge Brasilianer präsentiert die 8 Kreisleriana-Sätze episodisch, dabei effektvoll und mit feinem Ohr für Nebenstimmen. Die zweite Hälfte glättet dann die Abgründe romantischer Fantastik und widmet sich brasilianischer Musik des 20. Jahrhunderts.

Der nette Herr an der Kasse ist Christoph Schreiber. Der Pianosalon ist seit knapp 20 Jahren sein Herzensprojekt. Er ist gleichermaßen Kurator, Organisator, restauriert Flügel und putzt die Toiletten. Schreiber, der sich selbst als Impresario bezeichnet, ist eigentlich Neurologe. Bis vor fünf Jahren absolvierte er abwechselnd eine 60-Stunden-Woche in der Klinik und arbeitete die nächste dann in der Werkstatt. Inzwischen widmet er sich exklusiv seiner Leidenschaft.

Der „Pianosalon Christophori“ steht für weitaus mehr als hippe Industrieromantik. Ausgehend von der Vision, Werkstattkonzerte im Geist des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben, ist der Salon eine beachtete Adresse in der Szene geworden. Schreiber fühlt sich gleichermaßen „seinen“ Musiker:innen wie dem Publikum verpflichtet. Über die Jahre ist ein weit verzweigtes Netzwerk etablierter Künstler entstanden, dazu stoßen ständig neue Talente.

Seine Halle ist ein Experimentierfeld, das neben Standardrepertoire auch Raum für wenig beachtete oder zeitgenössische Musik schafft. In Berlin gibt es keinen anderen Spielort, wo sich die Vielfalt von Klavierklang und Ideengeschichte so plastisch erleben lässt, auf modernen und historischen Konzertflügeln. Der Salon versteht sich als ideologiefreier Begegnungsort, der Zugangsbeschränkungen des klassischen Konzertbetriebes zu überwinden sucht. Nur in einem Punkt bleibt Schreiber ganz konservativ: auf höchstem Niveau müssten die Konzerte sein.

Angesichts dieser idealistischen Haltung drückt Schreiber die aktuelle wirtschaftliche Realität härter denn je. War der Ansturm nach dem ersten Corona Lockdown noch ermutigend, so bleibt jetzt das Publikum zunehmend aus. Auch zum Konzert von Christian Budu ist der Saal gerade einmal zu einem knappen Drittel gefüllt.

Die ersten Auswirkungen der Pandemie konnten noch mit einem Kredit abgefedert werden, allerdings jetzt aber steht zu befürchten, dass die explodierenden Energiepreise bald das endgültige Aus bedeuten. Neben der Frage nach der Wirtschaftlichkeit des Betriebs, macht sich Christoph Schreiber zunehmend Gedanken, wie sich die Begeisterung für Klassik noch auf jüngere Menschen übertragen lässt. Er möchte gerne so viele Leute wie möglich mit seiner Christophorie anstecken. 

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