Ulrich Woelks Roman „Mittsommertage“: Die Verwüstungen der Gegenwart

Es ist der Biss einer streunenden Katze, der im berühmtesten Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox, „Was am Ende bleibt“, eine Ehekrise auslöst. Wenn die Heldin des neuen Romans von Ulrich Woelk auf ihrer frühmorgendlichen Joggingrunde um den Lietzensee von einem Hund gebissen wird, fühlt man sich fast subkutan an diesen Roman erinnert, mit dem Jonathan Franzen die lange unterschätzte Kollegin zu seinem Vorbild erkor. „Mittsommertage“ spielt im heißen Hochsommer 2022. Ruth Lember, Mitte fünfzig, ist Professorin für Ethik an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie steht unmittelbar vor ihrem größten Karrieresprung, der Berufung in den Deutschen Ethikrat.

Der Tag verspricht einen neuen Hitzerekord, also verlässt sie das eheliche Schlafzimmer etwas früher als sonst, um die Kühle des Lietzenseeparks auszunützen. Der Biss des Hundes erwischt sie völlig unerwartet. Und er löst eine tiefe Verunsicherung in ihr aus. Die junge Hundebesitzerin ist komplett überfordert, entschuldigt sich überschwänglich. Ruth lässt sich nicht einmal die Adresse von ihr geben. Sie hat noch niemals jemanden angezeigt und will von diesem Prinzip keineswegs abweichen. Also spielt sie die Sache herunter.

Ein kleiner Biss. Mehr nicht. Ein Arztbesuch würde nicht in ihren Terminplan passen. Abends will sie mit Ben, ihrem Mann, essen gehen, nicht zuletzt, um ihn abzulenken. Denn am nächsten Tag fällt die Entscheidung über einen Wettbewerb zur Neugestaltung von Siemensstadt, an dem er mit seinem Architekturbüro teilnimmt. Wenn er am Beginn des Romans ihre Wunde desinfiziert, wenn er sie ermuntert, ihre Lehrverpflichtungen abzusagen, dann sieht man einen fürsorglichen Mann und ein erfolgreiches Paar in der Mitte des Lebens. Doch die Wunde entzündet sich, und das Unheimliche bricht sich auch auf anderen Wegen Bahn.

Der Biss eines Tieres

In ihrer Vorlesung sitzt ein Mann mit Maske, so wie das im Pandemiesommer 2022 üblich war, und starrt sie an. Selbst in der U-Bahn scheint er sie zu verfolgen. Schließlich gibt er sich zu erkennen. Es ist Stav (coole Abkürzung für Gustav), eine längst verflossene Liebe. Er hat von ihrer Berufung in den Ethikrat gehört und erzählt ihr von dem Material, das er all die Jahre aufbewahrte: Dokumente eines Sabotageaktes mit umweltpolitischem Hintergrund, an dem sie Ende der 1980er Jahre beteiligt war. Was will er von ihr? Will er sie erpressen? Ruth weiß, dass das ihre Karriere gefährden kann.

Unwillkürlich spült die Begegnung mit ihm lange verkapselte Erinnerungen an die Oberfläche ihres Bewusstseins: ob es der Anblick des sterbenden Rehs ist, ungewolltes Opfer eines Sabotageakts, in dessen Augen sie Todesfurcht sah – bildlich eine gelungene Übertragung des berühmten Fotos von Benno Ohnesorg und Friederike Hausmann vom 2. Juni 1967 -, oder die Wiedererweckung des Gefühls, wie es war, nach einer improvisierten Dusche im Sommerregen mit Stav zu schlafen.

Anders als in seinem vor gut zwanzig Jahren erschienenen Roman „Die letzte Vorstellung“, in dem es um die Ermordung eines fiktiven RAF-Terroristen ging, kommt es Woelk dieses Mal nicht auf die detaillierte Rekonstruktion von Zeitgeschichte an. Er konzentriert sich auf die Wahrnehmung seiner Hauptfigur.

Wie er in Ruths Gedächtnis und im Gespräch mit dem früheren Geliebten die Stimmung der späten 1980er und der frühen 90er Jahre vergegenwärtigt, zeigt die Könnerschaft, die er seit seinem Debüt „Freigang“ (1990) in mittlerweile 14 Romanen entwickelt hat. Dabei geht es auch um die unabsehbaren Folgen der sexuellen Befreiung und die damals übliche Suggestion, Kinder hätten keinen Platz im Lebensentwurf intellektueller Frauen.

„Mittsommertage“ bringt die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung dieser Zeit in Zusammenhang mit den Klimaaktivisten der Gegenwart. Dabei hält Woelk seine Neigung zu enzyklopädischer Gründlichkeit ebenso im Zaum wie die Gefahr, in einem Diskursroman noch einmal zu duplizieren, was täglich in der Zeitung steht. Der Blick des Rehs, einmal aus der Kapsel der Verdrängung entlassen, führt tief ins Innere von Fragestellungen, wie sie etwa der französische Philosoph Bruno Latour aufgeworfen hat. Für Jenny, Bens Tochter aus erster Ehe, ist Ruth in nahezu jeder Hinsicht die Mutter. Die Geschichte ihrer bewegten Vergangenheit, die Ruth Jenny auf Bitten Bens zur Abschreckung erzählt, löst in der zwanzigjährigen Greta-Thunberg-Followerin das Gegenteil aus: Bewunderung.

Ulrich Woelk verknüpft die Motive so präzise wie in einer Novelle und erzählt zugleich mit der entspannten Hingabe eines Schriftstellers, der sich seiner Mittel sicher ist. Die Stilmittel des modernen Romans, von Flaubert bis Faulkner, sind beweglich genug, um die Verwüstungen der Gegenwart aufzufassen. Wie in T.C. Boyles jüngstem Roman, „Blue Skies“, verdichtet sich die Verflochtenheit des Menschen mit der Natur im Biss eines Tieres. Dort ist es eine Zecke (also eher ein Stich), bei Woelk der Hund als Stadtneurotiker. Die Ehen mögen inzwischen gleichberechtigter sein als bei Flaubert und Paula Fox: Das Unabsehbare bleibt das Terrain der Literatur.