Vom Ultra zum Hertha-Präsidenten? „Ich bin ein Kind der Kurve“
Kay Bernstein, 41, gehörte zu den Gründungsmitgliedern von Herthas Ultra-Gruppierung „Harlekins Berlin“. Bernstein ist Eigentümer einer Veranstaltungs- und Kommunikationsagentur. Nun will er Hertha-Präsident werden.
Herr Bernstein, Sie waren früher jahrelang Vorsänger in der Fankurve. Wo werden Sie sich am Samstagabend das Spiel von Hertha BSC in der Fußball-Bundesliga gegen den FSV Mainz 05 schauen?
Auf der Haupttribüne, im Unterring, wie seit zwölf Jahren. Wir hatten dort von meiner Firma aus immer ein Vip-Arrangement. Von dort habe ich mir das bunte Treiben und die tollen Fußballspiele der wunderbaren Hertha angesehen (lacht).
Das ist räumlich eine ziemlich große Distanz zur Ostkurve, in der Sie einst standen.
Daher ist die nun häufig verwendete Bezeichnung auch nicht ganz richtig, dass ich ein Ultra bin. Das ist 16 Jahre her, natürlich prägen mich gewisse Werte und Ideale aus der Zeit weiterhin. Aber der Begriff „ultra“ ist erstmal nur ein Wort, das besagt, dass man Dinge leidenschaftlich und extrem macht.
Nun wollen Sie Präsident von Hertha BSC werden. Haben Sie immer die Fansicht beibehalten?
Ich bin inzwischen ein Stück distanziert von der Kurve, nicht nur wegen der Entfernung. Aber der Hauptgrund, warum ich mich bei den Spielen nicht mehr dorthin begebe, ist ein anderer. Die Suchtgefahr ist zu groß. In der Kurve, noch dazu als Vorsänger, schüttest du viel Adrenalin aus, das macht schon abhängig.
Sie sind lange raus aus der Ultraszene, trotzdem werden Sie jetzt damit in Verbindung gebracht. Ist es denkbar, dass Ihre Vergangenheit bei Fans nicht gut ankommt, die den Ultras skeptisch gegenüberstehen?
Jedes Mitglied sollte eine Meinung haben. Wenn es Leute gibt, die sich daran stören, dass ich eine Vergangenheit in der aktiven Fanszene habe, aber mehr als anderthalb Jahrzehnte später die Verbundenheit und Leidenschaft nicht verloren habe, dann kann da jeder für sich entscheiden. Ich habe immer ein offenes Ohr und helfe, wenn ich helfen kann und daher nimmt man mir den Spagat zwischen Fankurve und Tribüne nicht übel.
Demnach ist es ein Vorteil, dass Sie die Fanszene gut kennen?
Ich sehe mehrere Vorteile. Bei allen anderen Kandidaten, die vielleicht noch kommen, dürfte das Fragezeichen da sein, wird der von Lars Windhorst geschickt? Das ist bei mir und meiner Vita ausgeschlossen. Auf der anderen Seite habe ich durch das Durchwandern des Olympiastadions von Fankutte über Ultra-Fan bis Haupttribüne jeden Blickwinkel eingenommen. Jetzt bin ich Vater. Ich habe eine ganz andere Sicht auf die Dinge als früher. Ich kann den Fan im Oberring genauso verstehen wie den in der Ostkurve, auf der Haupttribüne oder diejenigen, die drei Mal im Jahr mit einem Rollstuhlfahrer zusammen ins Stadion gehen.
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Wie ist die Idee entstanden, Präsident werden zu wollen?
Der Prozess startete gedanklich mit dem Tag, als ich das Interview von Herrn Windhorst bei „Bild TV“ gesehen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen habe.
Das war Mitte März, der Investor hat Präsident Werner Gegenbauer hart kritisiert.
Als Mitglied des Vereins war für mich klar, dass ich darüber nachdenken musste, wie es in eine andere Richtung gehen kann. Denn es herrscht eine Pattsituation, da muss nicht mehr vermittelt werden. Da muss eine Vision her.
Womit treten Sie an?
Wir haben auf der Webseite wirherthaner.de sehr deutlich gemacht, dass wir einen anderen Weg gehen wollen. Wir wollen es als inhaltlichen Impuls verstehen, Hertha besser zu machen und wieder zu vereinen. Wir wollen den Herthanern, die aktuell gebeutelt durch die Stadt gehen und die blau-weiße Fahne nicht mit Stolz tragen können, das Gefühl zurückgeben, dass da ein Verein ist, für den es sich lohnt zu leiden. Leiden kommt nun einmal von Leidenschaft und Leidenschaft gehört dazu in guten wie in schlechten Zeiten.
Von letzteren gab es zuletzt sehr viele bei Hertha BSC.
Zu viele. Dann kam noch eine Pandemie, die die Fans vom Fußball entfernt. Manchen Hertha-Fans ist der Verein egal geworden. Da blutet mir das Herz. Hertha darf den Leuten nicht egal sein.
Auf wirherthaner.de ist zu lesen, der Klub stehe da „wie eine Lachnummer“. Das klingt sehr desillusioniert.
Aktuell ist der Verein das Paradebeispiel dafür, wie es andere Vereine nicht machen sollten, falls sie zu sehr viel Geld kommen. Aber wir haben nicht rückwärts gedacht, um mit Vorwürfen um uns zu werfen. Es muss nach vorn gedacht werden, damit es besser wird.
Was qualifiziert Sie für das Amt?
Bei mir schwingt ganz viel Demut mit und die Frage, ob die Fußstapfen nicht einen Tick zu groß sind. Wenn ich mich aber daran erinnere, wie sehr wir damals gehofft haben, dass durch Werner Gegenbauer als Präsident die Vermarktungserlöse steigen, die Verzahnung in der Stadt besser wird und sein Netzwerk hilft … Das ist alles nicht eingetreten. Ich kann sagen, dass ich genau so gut vernetzt bin, vielleicht nicht im politischen und im öffentlichen Bereich, aber im Mittelstand und im industriellen Berlin.
Welche Eigenschaften würden Sie einbringen?
Es ist eine kommunikative Aufgabe. Es braucht einen Leuchtturm, der emotional versucht, die Leute zu begeistern und klarzumachen, dass Hertha einen guten Weg beschreiten kann. Das ist etwas, was ich mir zutraue, weil es um Begeisterungsfähigkeit geht. Und ich bin nun einmal ein Kind der Kurve, was die nötige Leidenschaft für den Verein mitbringt.
Wie waren die ersten Reaktionen?
Auf meinem Telefon war es wie Silvester, Geburtstag und Ostern zusammen. Ganz viele Leute haben geschrieben, wie begeistert sie sind, wie steinig sie sich aber auch den Weg vorstellen. Ich habe bisher nur positives Feedback erfahren, wünsche mir aber auch negative inhaltliche Rückmeldungen, nach dem Motto, hier habt ihr einen Denkfehler. Denn das ist ja kein in Stein gemeißeltes Manifest.
Sehen Sie Ihre Kandidatur auch als Anstoß, dass umgedacht wird bei Hertha?
Also erst einmal sehe ich meine Chancen bei etwa 30 Prozent. Aber richtig, das mit dem Anstoß ist ein Aspekt, an den ich gedacht habe, als ich das jetzt angegangen bin. Ich gehe übrigens davon aus, dass Werner Gegenbauer, die 25 Prozent bekommen wird, um im Amt zu bleiben.
Sie meinen die Abstimmung über den Abwahlantrag gegen den Präsidenten auf der Mitgliederversammlung am 29. Mai. Der wäre nur erfolgreich, wenn 75 Prozent der Mitglieder zustimmen.
Ja. Der Konjunktiv kommt jetzt aber ins Spiel: Tritt er nicht schon vorher zurück? Oder wenn er nur 35 Prozent der Stimmen bekommt? Deshalb haben wir uns ja die Arbeit gemacht, eine Vision zu erstellen. Dann müsste der Verein zum Beispiel erstmal erklären, warum er Sportwettenanbieter als Sponsoren für richtig hält. Vielleicht wird dann endlich darauf verzichtet, weil Hertha für eine Haltung stehen will. Mit der Haltung würden sich dann andere Erlösmöglichkeiten ergeben.
Wo sehen Sie diese?
Da haben wir klare Ansätze. Geld von Wettanbietern wollen wir nicht, wir wollen kein Geld verdienen, in dem wir Menschen irgendwo hineinlocken. Eine Idee ist: Lasst uns 50 Prozent vom Trikotverkauf in soziale Projekte stecken. Da können sich der Wartenberger SV oder Grün-Weiss Neukölln für eine neue Kabine bewerben oder für ein neues Tornetz. Ich bin mir sicher, dass Nike mitgehen würde, weil die sagen, dann verkaufen wir nicht 20.000 sondern 40.000 Trikots, und wir übernehmen soziale Verantwortung. Eine Win-win-win-Situation.
Herr Bernstein, wie bereiten Sie sich auf die kommenden Tage vor?
Ich habe in weiser Voraussicht kürzlich mit der Familie zehn Tage Urlaub gemacht. Es kann also gerne noch arbeitsintensiver werden in meinem Leben.