Hansi Flick setzt auf Abwechslung und Kontinuität

Leroy Sané legte nach seiner Einwechslung eine Performance hin, mit der er sich deutlich abhob von seinen Kollegen. Dummerweise war zu diesem Zeitpunkt das Nations-League-Spiel gegen England schon beendet. Gleich nach dem Abpfiff war ein sehr junger Mann über die Bande gehüpft und hatte sich widerrechtlich Zugang zum Innenraum der Münchner Arena verschafft. Er hielt ein Handy in der Hand und nutzte die Unachtsamkeit der Ordnungskräfte, um für ein Foto mit Kai Havertz und Serge Gnabry zu posieren.

Anschließend probierte er es auch mit Leroy Sané, doch der zuckte nur mit den Schultern und ließ ihm mit einer geschickten Körpertäuschung einfach stehen. Schließlich nahmen zwei Männer mit gelben Westen den sehr jungen Mann in ihre Mitte und geleiteten ihn vom Rasen.

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Allzu viele Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen, hatte Leroy Sané an diesem Abend nicht gehabt. Gut zehn Minuten, inklusive Nachspielzeit, stand er auf dem Platz; es waren die Minuten, in denen die Engländer erst vehement auf den Ausgleich drängten und ihn schließlich durch einen von Harry Kane verwandelten Foulelfmeter zum 1:1-Endstand auch erzielten. Also nicht die beste Zeit für einen Stürmer wie Sané.

Bei ihm hat man allerdings gerade generell den Eindruck, dass es nicht die beste Zeit für ihn ist. Nach seinem eher dürftigen Auftritt am Wochenende gegen Italien fand sich Sané daher gegen die Engländer auf der Auswechselbank wieder – so wie sechs weitere seiner Kollegen, die Hansi Flick aus der Startelf gestrichen hatte.

Das deutsche Team präsentiert sich lernfähig

Dennoch widersprach der Bundestrainer der Deutung, dass seine Personalentscheidungen kausal mit den Leistungen in Bologna zusammengehangen hatten. In der Tat dürfte es ihm angesichts des straffen Programms mit vier Spielen in nur elf Tagen vor allem um die notwendige Belastungssteuerung gegangen sein.

Dass die sieben Neuen jedoch zu einer deutlichen Qualitätssteigerung im Spiel der Deutschen geführt hatte, war ein mindestens erfreulicher Nebeneffekt. „Wir hatten Intensität im Spiel, wie der Trainer das gefordert hatte“, sagte Jonas Hofmann, einer der sieben Neuen in der Startelf und Schütze des Führungstreffers. „Wir waren aktiv, hatten gute Ballstafetten, haben gut kombiniert, Chancen herausgespielt.“ Kurzum: Es war „ein schöner Fußballabend“.

Er brachte dem Bundestrainer bei allem Ärger über den verspielten Sieg auch die eine oder andere erfreuliche Erkenntnis: dass sein Team lernfähig ist etwa, weil es die richtigen Schlüsse aus dem trägen Auftritt gegen die italienische Nationalmannschaft gezogen hat.

Und dass Flick mit seinen Personalentscheidungen interne Prozesse in Gang bringen kann, die einen positiven Effekt erzielen. „Wir haben Riesenpotenzial im Kader. Dementsprechend sollte sich niemand ausruhen“, sagte Ilkay Gündogan.

Es gibt vier Unantastbare im Kader

Offiziell firmieren die letzten vier Spiele der Saison unter dem Label Nations League. Über deren Bedeutung wird traditionell kontrovers diskutiert. Die einen sehen in ihr inzwischen einen ernstzunehmenden Wettbewerb, Thomas Müller hingegen sprach von „Freundschaftsspielen verpackt in einen Turniermodus“. In Wirklichkeit handelt es sich, zumindest in diesem Jahr, um ein verschärftes Casting für die Plätze in Flicks WM-Kader. „Wettbewerb ist manchmal gar nicht so schlecht“, sagte der Bundestrainer.

Über die Weltmeisterschaft wollte Flick noch nicht sprechen. Trotzdem lieferte das Spiel gegen England womöglich schon tiefere Aufschlüsse über seine Ideen. Interessant war ja nicht nur, wer nach dem Auftritt in Bologna nicht mehr dabei war (Sané!); interessant war auch, wer in der Startelf blieben durfte: Manuel Neuer, der Torhüter und Kapitän, Antonio Rüdiger in der Innenverteidigung, Joshua Kimmich als Sechser und Thomas Müller im offensiven Mittelfeld.

Diese vier Unantastbaren bilden so etwas wie Flicks WM-Achse, die sich von hinten einmal bis (fast nach ganz) vorne zieht. Alles andere ist verhandelbar, selbst die Stellung von Thilo Kehrer, der zuvor in jedem der zehn Spiele unter Flick in der Startelf gestanden hatte. Kehrer schien ebenfalls zu den Unantastbaren zu gehören, das aber hat sich als Trugschluss herausgestellt.

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Der Defensivallrounder von Paris Saint-Germain ist eher so etwas wie der Joker für die letzte Reihe. Aber auch Kehrer, der in München gar nicht zum Einsatz kam, muss sich der Konkurrenz stellen: Hinten links heißt sie David Raum, der gegen die Engländer eine starke Vorstellung bot, in der Zentrale Niklas Süle und Nico Schlotterbeck und rechts Lukas Klostermann und Jonas Hofmann, der wiederum, wie gegen die Engländer, auch eine Reihe weiter vorne spielen kann.

Die Stürmerposition könnte kompliziert werden

„Wir sind in einer Leistungsgesellschaft. Da geht es nur darum, dass man performt“, sagte Flick. Die Neuen taten das gegen England weitgehend gut (Musiala, Hofmann, Raum) bis mindestens zufriedenstellend (Klostermann, Gündogan). Nur Nico Schlotterbeck fiel etwas ab. Der Innenverteidiger wirkte oft fahrig, verschuldete zudem mit einem tölpeligen Foul an Kane den Elfmeter, der die Deutschen um den Sieg brachte.

Kai Havertz wiederum, der siebte Neue, hatte es erwartbar schwer. Havertz spielte anstelle von Timo Werner als zentrale Spitze. Von Haus aus ist er offensiver Mittelfeldspieler, für den Bundestrainer aber vor allem „ein begnadeter Fußballer“, der sich noch dazu in England eine ganz andere Körperlichkeit angeeignet habe.

Havertz schenkte selbst in Kopfballduellen mit Harry Maguire nicht ab. „Das macht einfach Spaß, das zu sehen“, sagte Flick. Und trotzdem: Ein Brecher für den gegnerischen Strafraum wird Havertz ganz sicher nicht mehr werden. So bleibt die Besetzung des Sturms für den Bundestrainer eine der kniffligsten Fragen, die er bis zur WM noch beantworten muss. „Wir haben Qualität auch auf dieser Position“, sagte er. Es klang fast ein bisschen trotzig.