Die Schlüssel der verlassenen Häuser
24. März 2022
Es ist Frühling in Berlin. Und auch wenn ich coronabedingt heute noch zu Hause bleiben sollte, kann mir keiner verbieten, mich auf den Balkon zu setzen und Frühlingsluft einzuatmen. Normalerweise habe ich dafür keine Zeit, aber gerade bin ich ja im Quarantäne-Office.
Das letzte Mal, dass ich meine Straße aus dem ersten Stock länger als 15 Sekunden beobachtet habe, muss noch vor Corona gewesen sein und da habe ich gestaunt, als ich feststellte, dass alle, die unter meinem Balkon vorbeiliefen, Englisch sprachen. Gerade telefoniert jemand direkt unter mir, und zwar auf Ukrainisch.
Jede Nacht träumt die Freundin von der Wäsche, die sie vor einem Monat aufgehängt hat
„Na, dann kannst Du sie vielleicht bis zur Grenze bringen, wenn Du selber nicht mitkommen möchtest, dann können sie alleine über die Grenze nach Polen und dann einen Zug nehmen, das ist ja jetzt umsonst, habe ich gehört, überleg es Dir einfach mal, Papa …“
Fünf Minuten später laufen zwei junge Frauen auf meiner Straßenseite entlang. Überraschung! – auch diese beiden Damen unterhalten sich auf Ukrainisch. Das Einzige, was ich vom Dialog überhöre: „…im Salat, aber sogar so schmecken diese Tomaten ihm nicht!“
Vor ein Paar Wochen hat mich eine deutsche Fernsehjournalistin interviewt und dabei gefragt, ob ich glaube, dass dieser Krieg nach Deutschland kommen könnte. Ja, sicher, antwortete ich, – das schließe ich nicht aus! Sie schaute mich kurz ungläubig an. Jetzt hätte ich sagen können, ja, sehen Sie, der Krieg hat uns doch erreicht – mit den Hunderttausenden von ihm betroffenen, traumatisierten, oft orientierungslosen Menschen, die inzwischen hier angekommen sind. Als das Gespräch mit der Journalistin stattfand, waren sie noch nicht da.
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Ein Monat ist das her. Ein Monat seit jenem frühen Morgen, als die ersten Raketen abgeschossen wurden und auf die ukrainischen Städte gefallen sind. „An diesem Tag haben wir alle unsere Mütter angerufen“, sagt eine Freundin…
Viele schreiben heute von den Schlüsseln, die man bis heute in der Handtaschen oder sonst wo immer dabeihat. Alle, die ihre Städte verlassen haben, steckten natürlich ihre Schüssel ein. Manche haben kein Zuhause mehr, das sie mit diesen Schlüsseln aufsperren könnten, ihre Häuser wurden von den russischen Bomben zerstört. Und niemand weiß, wann sie wieder zurück können.
Viele Neuangekommene denken ständig an die Dinge, die sie zu Hause gelassen haben. Eine Klassenkameradin, die seit einer Woche in Hannover ist, fragt mich bei unserem Telefonat, ob ich jemanden kenne, der etwas aus Lwiw nach Hannover mitnehmen könnte. Sie erzählt von ihren neuen Turnschuhen, die sie im Flur ihre Wohnung in Charkiw vergessen hat.
„Meinst Du, wenn ich meinen Nachbar anrufe und ihn bitte, die Turnschuhe abzuholen und sie mit der Post nach Lwiw zu schicken, wird sich jemand finden, der sie dann nach Hannover bringt? Ich mag sie so gern, hab sie nur zweimal getragen!“ Eine andere Freundin aus Mykolajiw sagt, sie träumt fast jede Nacht von der Wäsche, die sie am 24. Februar zum Trocknen aufgehängt hat, bevor sie ihre Wohnung verließ.
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Letzte Woche war ich zum ersten Mal seit 25 Jahren im Sozialamt, ich habe meine ukrainischen Verwandten begleitet. Es war ein Schock, ich habe das Amt noch nie so voll gesehen – junge und alte Menschen mit Kindern und Haustieren, stehend, sitzend, auf dem Boden liegend, keiner spricht Deutsch, keiner weiß, was es genau auf sich hat mit dieser Behörde.
Auch die Mitarbeiter sind überfordert, neu dazugekommen sind die Dolmetscher, die das Ganze etwas beschleunigen. Unser Termin ist um 10, wir sind jedoch erst kurz vor 17 Uhr fertig. Fast alle, mit denen ich mich unterhalten habe, reden davon, wie und wann sie zurückfahren können. In die Ukraine. Nach Hause. Nach dem Sieg. Nach unserem Sieg!
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