Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (77): Singen und springen mit Serhij

20./21.10.2022
Wahrscheinlich lache ich lauter, als es sich so früh am Bautzener Bahnhof gehört, alle am Gleis drehen sich zu mir. „Wer ist dieser Freak?“, fragen sie sich wahrscheinlich. Mit zwei Gitarren, einem Rollkoffer, einem Rucksack und Sonnenbrille sehe ich in der Tat etwas merkwürdig aus. Hätten sie mich ohne Sonnenbrille gesehen, würden sie noch mehr staunen, denn ich trage sie, um einen blauen Fleck zu verdecken.

Gestern kurz vorm Konzert habe ich mir auf der Bühne ins Auge gehauen, als ich die Gitarre abnahm. Kein gutes Timing, denn ich bin gerade auf dem Weg nach Frankfurt, wo ich am Freitag auf der Buchmesse einen ganz wichtigen Auftritt habe. Mit Serhij Zhadan, der dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, präsentiere ich unser Album „Fokstroty“.

Ich habe Serhij ein Selfie mit dem blauen Auge geschickt, und es ist seine Antwort, die mich am Gleis zum Lachen bringt: „Wow, wie Sosjura siehst du jetzt aus!“ Wolodymyr Sosjura, einer der bekanntesten ukrainischen Dichter des 20. Jahrhunderts, hat in seinen wilden Jahren viel getrunken und war immer wieder in Schlägereien verwickelt. Er wohnte im legendären Charkiwer Slowo Haus und gehörte zu den wenigen ukrainischen Autoren, die in den 1930ern nicht hingerichtet wurden. Zwei seiner Texte haben wir auf „Fokstroty“ vertont.

Mein Zug hat Verspätung, aber ich werde es trotzdem pünktlich zur Probe schaffen. Die Frage ist nur, ob auch Serhij rechtzeitig vor Ort ist. Gestern schrieb er, er sei nicht sicher, dass er tatsächlich um 16 Uhr in Frankfurt landen würde. Ich war verwirrt, denn ich hatte den Eindruck, er sei schon seit zwei Tagen auf der Buchmesse. Ich hatte recht, bloß stellte sich heraus, dass er am Donnerstagvormittag noch einen Preis in Polen bekommen sollte – er musste für vier Stunden nach Krakau.

Aber an diesem Tag scheinen die Götter auf unserer Seite zu stehen und alles läuft wie am Schnürchen. Am frühen Abend sitzen wir in Serhijs Zimmer und gehen unsere Stücke durch. Da im Frankfurter Hof Gitarrenverstärker nicht zur Zimmerausstattung gehören, muss ich bei dieser Probe nicht viel machen, nur die Playbacks auf meinem Laptop einschalten, ein bisschen dirigieren, ab und zu mitsingen.

In meinem Kopf läuft ein ganz anderer Film ab, ich denke an die drei Konzerte, die wir vor einem Jahr zur Premiere von „Fokstroty“ in Kiew gegeben haben, wie euphorisiert unser Publikum an diesen Abenden war, wie viel Feedback wir bekommen haben.

Man schrieb, wir wären die Ersten gewesen, die sich getraut haben, zu den Texten der Dichter der 1920er freche tanzbare Popsongs zu schreiben. Es tat weh, in den letzten Monaten zu beobachten, wie so vieles, was bei der Entstehung unseres Albums eine Rolle gespielt hatte, von russischen Raketen zerstört wurde.

Schon um 7.30 Uhr früh am Freitag stehen wir auf der Bühne des Frankfurter Pavillons. Das ist wahrscheinlich die früheste Probe meines Lebens! Nach dem gestrigen Tag mit dem Ausflug nach Polen, unserer Probe und einer Buchpräsentation am Abend sieht Serhij erstaunlich frisch aus, auch Lyuba Yakimchuk ist da, die nach einer zweitägigen Reise aus Kiew gestern spät in der Nacht in Frankfurt angekommen ist.

Die Zeit zwischen der Probe und dem Auftritt verbringe ich beim ukrainischen Nationalstand auf der Messe, wo dank des Ukrainischen Buchinstituts und des Goethe-Instituts Ukraine ein tolles Programm läuft. Viele sind neugierig, manchmal bemerke ich weinende Besucher*innen mit ukrainischen Büchern in der Hand.

So viele strahlende Gesichter wie beim Konzert am Freitagabend habe ich lange nicht mehr gesehen. Unser Publikum ist bunt: Deutsche und Ukrainer, Amerikaner und Japaner tanzen, hüpfen und singen mit. Trotz allem sind wir zusammen. Wir halten zusammen und zusammen werden wir diesen Krieg gewinnen – weil wir wissen, wofür wir kämpfen.

Zur Startseite