Ukrainian Film Festival Berlin: Krieg in den Seelen
Was wir aus der gar nicht so großen Ferne sehen können, sind Reflexionen. Bilder aus der Ukraine, in den Nachrichten, auf dem Monitor, der Leinwand, im Kino. „Reflection“ von Valentyn Vasyanovych beginnt vor einer großen Panoramascheibe, dahinter wird Paintball gespielt. Kinder spielen Krieg, beschießen einander mit Farbkugeln. Wer getroffen wird, fällt „tot“ um. Auch die Scheibe wird mehr und mehr mit Farbe bekleckert. Je länger die zuschauenden Eltern das Geschehen betrachten, desto weniger können sie sehen. Wir schauen hin und werden blind mit der Zeit.
Vasyanovychs Kriegsdrama, das 2021 beim Filmfest Venedig im Wettbewerb lief, ist jetzt im Rahmen des 3. Ukrainian Film Festivals Berlin zu sehen. Von 26. bis 30. Oktober präsentiert es vier Spielfilme, vier Dokumentarfilme sowie zwei Kurzfilmprogramme in fünf Berliner Kinos.
Mit stilisierten, streng kadrierten Einstellungen dringt „Reflection“ bis in den untersten Kreis der Hölle vor: Serhiy (Roman Lutskyi), der Vater des Paintball spielenden Mädchens Polina, flickt als Chirurg im Krankenhaus die Soldaten aus der Ostukraine zusammen, geht freiwillig an die Front und gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Dort muss er Putins Schergen beim Foltern assistieren. Auch sein Freund Andriy, der neue Lebensgefährte von Polinas Mutter, wird zu Tode gefoltert, er kann ihm beim besten Willen nicht helfen.
Wie soll sich Serhiy zurechtfinden nach der Rückkehr ins zivile Leben? Gegen die Panoramascheibe seines Hochhaus-Appartements klatscht eine Taube. Mit Polina verbrennt er den abgestürzten Friedensvogel, beschert wenigstens ihm ein würdiges Ende – eine Ersatzhandlung, eine eindrückliche, hilflose Geste.
Die Autofrontscheibe in der Waschanlage, der Blick durchs verschneite Wagenfenster bei der Irrfahrt ins Kriegsgebiet, immer wieder Fensterscheiben, dazu das quietschend sich öffnende rostige Tor einer Lagerhalle, in der das mobile Krematorium der Russen versteckt ist – der Film versammelt zahlreiche Tableaus, die den verstellten Blick symbolisieren.
Die kreisrunde Verbrennungsanlage für die toten Folteropfer zitiert überdies die gewaltige Kupfertrommel aus Roy Anderssons abgründiger Groteske „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ von 2014. Bei dem schwedischen Kino-Philosophen Andersson waren es Sklaven, die von KolonialSoldaten in die Trommel getrieben wurden, unter der alsbald ein Feuer loderte. In „Reflection“ sind es die Opfer von Putins Angriffskrieg seit 2014: zwei ikonische, quälende, traumatische Bilder, die den Horror zu fassen versuchen, den der Mensch dem Menschen antut. Für einen Moment sprengen sie jedes Spiegelbild, jede reflexive Ebene.
Auch wenn Vasyanovychs Film sich zu sehr auf die Symbolkraft seiner sorgsam ästhetisierten Tableaus verlässt und dem Dilemma zwischen Schaulust und Aufklärung über die Gewaltverbrechen im Krieg letztlich selbst nicht entkommt, lohnt es, sich als Zuschauerin diesem Dilemma zu stellen und die im eigenen Kopf entstehenden Schreckensvisionen auszuhalten.
Serhiy kommt über einen Gefangenenaustausch frei. Das Gleiche erlebt Lilia in „Butterfly Vision“, die als ukrainische Drohnen-Spezialistin im Donbass kämpfte. Codename Butterfly: Was bei Vasyanovych der verstellte Blick ist, ist in Maksym Nakonechnyis in Cannes uraufgeführtem Film die Vogelperspektive und das reflexhafte Reagieren der Medien. Lilia wird nach ihrer Rückkehr als Heldin gefeiert. Tapfer lächelt sie in Kameralinsen, bleibt wortkarg, wenn ihr Mikros entgegenstreckt werden. Rita Burkovksas intensives Spiel ist es zu verdanken, dass schnell deutlich wird, welche Wunden und Traumata sie in sich trägt.
„Butterfly Vision“, der kurz vor Putins Angriff auf die übrige Ukraine fertiggestellt wurde und der das Festival am Mittwochabend im Kino Colosseum eröffnet, ist ein mutiger Film. Er schildert nicht nur, wie eine traumatisierte, zombiehaft durch ihr neues, altes Leben streifende Frau sich mit stillem Trotz gegen die mediale Vereinnahmung behauptet und sich die Selbstbestimmung über ihren Körper, ihre Seele, ihre Existenz zurückerobert.
Sondern er zeigt auch, wie das Verdrängte mit Macht wiederkehrt und wie der im Krieg notwendige Nationalismus in zerstörerischen Fanatismus umschlagen kann. Lilias ebenfalls aus dem Krieg zurückgekehrter Ehemann Tokha schließt sich einer rechtsextremen Bürgerwehr an, die unter anderem brutal gegen ukrainische Roma vorgeht.
„Du bist nicht mehr im Krieg“, sagt Lilia einmal zu ihm. So setzt sich das von Erinnerungsblitzen, Alptraum-Flashs und kurzen Bildstörungen durchsetzte Drama auch gegen simplifizierende Schwarz-Weiß-Malerei zur Wehr und legt den zerstörerischen Mechanismus von kriegsbedingt freigesetztem Aggressionspotential offen.
Wie kompliziert und streitbar die gesellschaftliche und kulturelle Gemengelage in Zeiten des Kriegs sein kann, zeigt ein Statement auf der Webseite des Festivals. Es geht um das Dovzhenko-Center in Kiew, welches das nationale Filmarchiv beherbergt und internationale Filmprogramme zeigt. Eine lebendiger Kultur- und Diskussionsort mit einem jungen, aus der Demokratiebewegung hervorgegangenen Team, vergleichbar dem hiesigen Arsenal-Kino und der Deutschen Kinemathek.
Nach dem Willen des zuständigen Ministeriums soll das Archiv jedoch aufgelöst und einem selbst Experten nicht näher bekannten Wissenschaftlichen Zentrum für Kinematografie überantwortet werden. Geht es um mehr staatliche Kontrolle? Gegen das undurchsichtige kulturpolitische Manöver, das das Ende des Dovzhenko Centers bedeuten wird, protestiert nun auch das unabhängig organisierte Filmfestival. Zu dessen Eröffnung steuert das Center gemeinsam mit der Choreografin Maryana Klochko eine audiovisuelle Performance bei.
Zu den Höhepunkten des Programms zählt auch „Klondike“ von Maryna Er Gorbach. Das Kammerspiel um ein auf der Frontlinie liegendes Haus mit zerschossener Fassade und eine zwischen Separatisten, Nationalisten und Zivilisten heillos gespaltene Familie vor dem Hintergrund des mysteriösen Abschusses jener malaysischen Passagiermaschine war schon auf der Berlinale zu sehen. Das Festival kann aber auch mit Deutschland-Premieren aufwarten. „Diary of a Bride of Christ“ über eine junge Frau, die sich fürs Kloster entscheidet, und „One Day in Ukraine“ über die ersten Wochen der russischen Invasion sind hierzulande erstmals zu sehen.
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