Schweres Umlernen
Ronen Steinke ist Journalist, Autor und innenpolitischer Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“. Dies ist ein Auszug aus seinem dieser Tage als erweiterte Neuauflage erscheinenden Buch „Antisemitismus in der Sprache“, Duden Verlag, Berlin 2022, 80 Seiten, 8 €.
Richard, Otto, Nordpol, Emil, Nordpol. So buchstabiere ich, wenn es aus Gründen der schlechten Akustik sein muss, meinen Vornamen. Das entspricht einer Konvention, die ich wahrscheinlich, wie die meisten Leute, irgendwann in der Schulzeit aufgeschnappt habe.
Die Klasse 7b hieß bei Durchsagen des Direktors über den schnarrenden Schullautsprecher 7 Berta, um nicht verwechselt zu werden mit 7 Cäsar und 7 Dora, und irgendwann hat man wohl auch durch Trial and Error in Gesprächen mit Älteren herausgefunden, dass es beim Buchstabieren besser F wie Friedrich, M wie Martha, H wie Heinrich heißt, nicht Felix, Mario, Hülya.
Dass man da im offiziellen Deutsch mit einem etwas altertümlichen Vornamenkanon arbeitet, während man etwa im Englischen mit einer lustig eklektischen Mischung aus Begriffen hantiert (Alfa, Bravo, Charlie, Delta, Echo, Foxtrot … umgangssprachlich wird das manchmal auch als NATO-Alphabet bezeichnet), ist den meisten Leuten hierzulande bewusst. Dass dieser Kanon der Buchstabiernamen einst von den Nazis arisiert worden ist, aber wahrscheinlich nicht.
Es ist ein interessantes Detail: Die Nationalsozialisten legten im Jahr 1934 Wert darauf, dass aus der „Buchstabiertafel“, die damals in jedem deutschen Telefonbuch abgedruckt war, damit man sich vom „Fräulein vom Amt“ gut verbinden lassen konnte, die jüdischen Namen verschwanden.
Auch christliche Deutsche trugen 1933 biblische Vornamen
Aus David wurde Dora, aus Nathan wurde Nordpol, aus Samuel wurde Siegfried, aus Zacharias wurde Zeppelin. Diese Änderung war den Nazis wichtig, weil die jüdischen Vornamen sonst quasi als deutsche Normalnamen weiter geehrt würden. Und weil durch ihre Anwesenheit in diesem erlauchten Kreis des offiziellen „Funkalphabets“ sonst der Umstand weiter normalisiert würde, dass Jüdisches zu Deutschland gehört.
Auch christliche Deutsche trugen und tragen schließlich biblische Vornamen, weshalb die Oberpostdirektion Schwerin schon 1933 die politische Führung warnte: Eine Streichung dieser Namen aus dem Buchstabierkanon werde „nicht nur bei dem Judentum Anstoß erregen, sondern auch bei den Angehörigen der beiden christlichen Konfessionen nicht überall Verständnis finden.“
Es ist aber auch „nur“ ein interessantes historisches Detail aus heutiger Sicht. Denn das, was die Nazis 1934 als Buchstabierreform ins Werk setzten, also Dora statt David, Nordpol statt Nathan, ist natürlich keine offene Schmähung von Juden gewesen, keine Verächtlichmachung von Juden.
Sondern bloß: deren Unsichtbarkeit. Das ist es, was bis heute fortwirkt. So, wie Bücher jüdischer Autor*innen, die aus Bibliotheken verbannt und verbrannt wurden, später oft nicht wieder zurückbeschafft wurden.
Dora hieß die letzte Lebensgefährtin Kafkas
Nichts gegen Dora, nichts gegen Siegfried. Solche Namen sind – natürlich – nicht antisemitisch und auf mich hat das auch nie wirklich wie eine „Naziverunstaltung“ des Alphabets gewirkt, wie der Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, sagt. Ihm kommt das Verdienst zu, eine Debatte über diese arisierte Buchstabiertafel überhaupt initiiert zu haben.
Selbst das Wort Nordpol springt einen beim Buchstabieren nicht unbedingt als anstößig an, wenn man nicht den sehr besonderen Hintergrund kennt, der die Nazis dazu bewog, es anstelle des Namens Nathan aufzunehmen.
Norbert hätte ja eigentlich nähergelegen. Laut der Ariosophie, einer rechtsextremen Esoterik, stammt die „weiße Rasse“ aus dem ewigen Eis, aus der Umgebung des Nordpols, wo sie von der harschen Witterung gehärtet worden sei. In diese Richtung schwurbelte 1920 der Bierkellerredner Adolf Hitler in seiner Münchner Rede „Warum sind wir Antisemiten?“. Hitler rühmte die Eiswüsten, die angeblich das Ariertum geformt hätten.
Das fanden die Nazis 1934, bei der Reform der Buchstabiertafel, anscheinend klangvoller als Norbert.
Auch die Tilgung von David und Samuel aus dem Kreis dieser Vornamen im Jahr 1934 hat nicht dazu geführt, dass man heute nur noch naziverseucht buchstabieren könnte. Die Namen, die stattdessen erwählt wurden, Dora und Siegfried, sind unproblematisch, ihren Sound kann man nur böswillig als schnarrend-nazistisch missdeuten.
Dora hieß die letzte Lebensgefährtin Franz Kafkas, sie war Mitarbeiterin beim Berliner „Jüdischen Volksheim“ und Kommunistin. Der Name Siegfried stand zwischen 1860 und 1938 auf der Hitliste der zehn beliebtesten Vornamen auch unter Juden in Deutschland.
David und Samuel waren exotischen neuen Modenamen
Wohl aber hat die nachhaltige Tilgung von David, Nathan und Samuel etwas bewirkt. Sie hat die Möglichkeit zu einer ganz beiläufigen Erkenntnis im deutschen Alltag abgeschnitten: dass nämlich Juden und Jüdinnen schon lange dazugehören. Dass David und Samuel keine exotischen neuen Modenamen für politisch Überkorrekte sind. Sondern so – pardon – heimisch wie Friedrich.
Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gibt es schon seit der Römerzeit Jüdinnen und Juden, länger, als es Christen gibt. Es gibt hier auch schon länger Menschen, die David oder Samuel heißen, als Menschen, die zum Beispiel Christoph oder Johannes heißen.
Das ist ja der Grund, weshalb man um 1900 herum, als mit dem Aufkommen der Fernsprecher das Bedürfnis entstand, auch bei schlechter Akustik klar buchstabieren zu können, überhaupt so selbstverständlich an David und Samuel dachte. Das war nicht als nette Geste in Richtung der Juden und Jüdinnen gedacht, sondern einfach eine nüchterne Wiedergabe des Status quo. Für die Buchstaben D und S waren das halt zwei sehr gängige Vornamen.
Diese Selbstverständlichkeit – das ist es, was ausradiert worden ist durch die NS-Reform von 1934. Schöne Vorstellung: Wer die Abkürzung NSDAP nach den offiziellen Vorgaben buchstabieren wollte, musste noch 1933 folgendermaßen beginnen: Nathan, Samuel, David…
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]
Wen kümmert das heute noch? Heute, gewiss, kümmert eine solche Buchstabierkonvention viel weniger Menschen, denn anders als damals muss man kaum noch Buchstaben per Funk durchgeben, das geht heute ja auch schriftlich blitzschnell.
Wer noch funkt, etwa bei der Polizei, der lernt noch „offizielles“ Buchstabieren, aber das war’s. Im Grunde ist die Idee einer verbindlichen Vorgabe, die heute zwar nicht mehr im Telefonbuch steht, dafür aber in der Deutschen Industrienorm 5009 („Text- und Informationsverarbeitung für Büroanwendungen – Ansagen und Diktieren von Texten und Schriftzeichen“), überholt. Bye, bye.
Wer hat schon eine offizielle ABC-Tafel vor Augen, wenn es darum geht, am Telefon den eigenen Namen zu buchstabieren? Wer weiß überhaupt, dass irgendwo Fachleute sitzen, die so etwas festlegen?
Zuletzt haben die Zuständigen für die DIN 5009 beschlossen, dass 2021 noch einmal die „Weimarer“ Buchstabiertafel gelten sollte, also eine Rückkehr zu D wie David, N wie Nathan und so weiter. Allerdings: nur übergangsweise.
Von 2022 an geht es weiter, dann soll offiziell etwas anderes gelten, Schluss mit allen Personen. Stattdessen: A wie Aachen, B wie Berlin, C wie Chemnitz, D wie Düsseldorf … Mein Vorname? Regensburg, Oldenburg, Nürnberg, Essen, Nürnberg. Man geht womöglich nicht fehl in der Annahme, dass dieser DIN-Beschluss auf die soziale Wirklichkeit nicht schnell durchschlagen wird.
Sprache soll bewusst gebraucht werden – und selbstbewusst
Die Zeit der Fräuleins vom Amt ist vorbei, die Zeit der Telefonbücher auch, und was heute irgendwo in offiziellen Buchstabiertafeln oder einer DIN-Liste steht, liest niemand und danach fragt eigentlich auch niemand.
Die Vorstellung, dass Leute jetzt „umlernen“, erscheint lebensfern, wenn nicht gar Anton, Ludwig, Berta, Emil, Richard, Nathan. Für die meisten Menschen, denke ich, dürfte eher handlungsleitend bleiben, was man halt vor vielen Jahren aufgeschnappt und woran man sich dann irgendwie gewöhnt hat. (Und am Telefon überlegt man weiterhin, sagt man eigentlich K wie Klaus …? Ach ja richtig, K wie Kaufmann.)
Aber verrückter Gedanke: Darin liegt eigentlich auch eine schöne Chance. Gerade weil die Gewohnheiten so träge sind, reicht es schon für eine kleine Irritation, wenn man beim Buchstabieren bloß den kleinen Veränderungsschritt geht und nur die Buchstabenarisierung des Jahres 1934 zurückdreht, sprich: am Telefon einfach mal N wie Nathan sagt.
DIN hin oder her. Die meisten Menschen erwarten natürlich weiterhin N wie Nordpol, D wie Dora und so weiter. Mein Vorname also von nun an: Richard, Otto, Nathan, Emil, Nathan.
Das ist überhaupt meine Hoffnung: Dass ein bewussterer Gebrauch von Sprache auch ein selbstbewussterer Gebrauch von Sprache ist. Nicht ein Beugen, sondern ein Auflehnen. Nicht ein Verhüllen, sondern ein Verklaren. Wenn der Blick schärfer wird, wenn man mehr weiß über Wurzeln von Worten, über den historischen Zahnbelag, der auf ihnen liegen kann, dann sollte das nicht dazu führen, dass irgendetwas im Sprechen stumpfer wird. Zurückhaltender, unsicherer. Sondern dann kann auch die Zunge schärfer werden.