Das Schlagzeug feudelt die Treppengeländer
Hilfe, die haben die Klassik gefleddert. Als die Besucherin den Kammermusiksaal betritt, bügelt die Posaune gerade einen Berg Wäsche weg , das Schlagzeug feudelt die Treppengeländer, das Fagott klimpert auf dem Klavier herum, das Horn stiebitzt Nüsschen von den Küchentischen auf der Bühne, um anschließend auch noch die Stechpalme zu wässern.
„Nonsense in Residence“ hat Patricia Kopatchinskaja ihr Late-Night-Programm als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker genannt. Wer jedoch glaubt, die Orchestermitglieder machten auf Anweisung der Geigerin einfach nur Quatsch, der irrt. Beim Bügel-Feudel-Werk handelt es sich um Unsinn nach Noten, um George Brechts Fluxus-Werk „Symphony No. 3“.
In den nächsten 90 Minuten folgen eine ganze Reihe von Fluxusstücken von John Cage, Mieko Shiomi und Patkop persönlich (so der Komponistenname der Solistin), bei denen mit lautem Gehämmer Nägel in die Tische eingeschlagen, Wörter zerlegt, Instrumentalduelle ausgefochten und gruppendynamische Verwerfungen hörbar gemacht werden. Auch György Ligeti ist mit von der Partie.
Lippen spitzen, Gaumen flattern
Im Zentrum steht eine Filmpräsentation: Kurt Schwitters‘ „Ursonate“ als durchgeknallte Familien-Tragikomödie, die Kopatchinskaja 2019 mit drei Mitstreiter:innen in der Schweiz gedreht hat. Wobei hier nicht wild improvisiert wird, sondern Schwitters‘ Zufallssilben-Themen hochvirtuos vor der Kamera variiert und zum Prestissimo gesteigert werden, vom martialischen „Fümms bö wö tä zä uu pögiff“ bis zum elegisch zarten „Rumpf tilf too“.
Wobei die Flüsterduette und Schreiquartette mehr als nur Dada-Heiterkeit auslösen. Plötzlich ertappt man sich bei der Frage, wie es eigentlich kommt, dass unsere Spezies minutiös die Lippen spitzt, das Gaumen-R flattern lässt, Fauch- Zisch-, Nasal- und Explosivlaute von sich gibt, um sich verständlich zu machen. Wo die Phonetik aufhört und die Musik anfängt.
Papierflieger segeln ins Publikum
Kopatchinskaja ist längst nicht mehr nur Geigerin, Komponistin und Dirigentin, hier tritt sie als energisch-verspielte Performerin auf. Auch die 16 Philharmoniker und Karajan-Akademisten fallen mit sichtlicher Lust aus der Rolle und betätigen sich als Konzertbetrieb-Anarchisten. Etwa wenn der hochgewachsene Oboist Dominik Wollenweber der zwei Köpfe kleineren, bereits die Leiter erklimmenden Chefin des Abends mal eben die vom Bühnenhimmel hängende Geige reicht.
Oder wenn die Musiker das Konzertprogramm in Form von Papierfliegern ins Publikum schleudern. Oder wenn sich bei den abschließenden Arien-Adaptionen aus Ligetis Oper „Le Grand Macabre“ alle auf den armen Hornisten Stefan Dohr stürzen, bis der in schreckhafter Abwehr doch lieber seine FFP2-Maske aufsetzt.
Wobei die Leichtigkeit überwiegt, mit gepfiffener Pentatonik in Cages „Living Room Music“, blubbernden Achtelketten bei Ligeti oder dem durch die Mangel gedrehten Walzer aus Jean Françaix‘ „Oktett für Klarinette, Fagott, Horn und Streicher“.
Ein herrlich zerzauster Drei-Taktler mit Jahrmarktsflair, süffig am Küchentisch vorgetragen. Riesen-Applaus, zu dem die Mitwirkenden sich nicht nur verbeugen, sondern gleich ganz zu Boden fallen. Die Zeiten sind hart, der Mensch braucht Spaß.