„Im toten Winkel“ im Kino: Regieanweisung aus der Geisterwelt
In einem kleinen Dorf im Nordosten der Türkei wiederholt sich seit rund einem Vierteljahrhundert jeden Freitag dasselbe Ritual. Zu einer bestimmten Stunde des Tages kocht Hatice, eine ältere kurdische Frau, einen großen Topf Suppe – eben jene Suppe, die sie an einem Freitag vor sechsundzwanzig Jahren zubereitete, als ihr Sohn spurlos verschwand. Nachbarsfamilien kommen mit Kochgeschirr vorbei, um sich eine Portion abzuholen, auch der Vermisste bekommt den Tisch gedeckt.
Die deutsche Regisseurin Simone ist mit einem kleinen Team vor Ort, um das Erinnerungsritual zu filmen. Sichtbar fasziniert spricht sie von „immateriellen Denkmälern“. Natürlich wird Hatices Sohn auch an diesem Tag nicht zurückkehren, seine Präsenz aber ist auf geradezu geisterhafte Weise spürbar.
In Ayşe Polats multiperspektivischem Drama „Im toten Winkel“ sind Geister nicht nur in Form eines unberührten Tellers Suppe oder eines Paars leuchtend grüner Augen anwesend, die auf einem Foto hervorblitzen; sie sind auch untrennbar mit den Bildmedien verwoben. Aufzeichnungsapparate wie Handy- oder Überwachungskameras stecken in Jackentaschen, fahren auf der Ablage hinter der Windschutzscheibe mit oder sind in Wohnungen auf Schränken fest installiert. Die Subjekte dahinter aber geben sich nicht zu erkennen.
Eine Atmosphäre des Misstrauens
„Im toten Winkel“ zieht eine schwelenden Suspense aus der unklaren Herkunft dieser Bilder, die von den Aufnahmen des Dokumentarfilmprojekts und der „objektiven“ Erzählinstanz (hinter der Kamera steht Patrick Orth) nicht immer sofort zu unterscheiden sind. Die siebenjährige Melek (Çağla Yurga) ist eine Blick-Instanz mit eigenem Recht: Durch ihren namenlosen „imaginären Freund“ weiß sie von Dingen, die sie eigentlich gar nicht wissen kann.
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Über drei Kapitel erzählt die deutsch-kurdische Regisseurin, die ihren Film bei der vergangenen Berlinale in der Sektion Encounters vorstellte, von Verlust, Verdrängung und generationenübergreifenden Traumata. Als generischer Rahmen dienen der politische Paranoia-Thriller und der Mystery-Film. Eine Atmosphäre des Misstrauens und des Verdachts sind von Anfang an spürbar, in jedem Schwenk, jeder Zoombewegung liegt eine potenzielle Bedrohung. Programmatisch beginnt „Im toten Winkel“ mit der Einrichtung eines Bildes. Der Kameramann sucht den richtigen Ausschnitt – und wirkt dabei selbst wie ein Beschatter.
Kräfte, die das kollektive Erinnern zu verhindern suchen, machen sich immer nachdrücklicher bemerkbar. Ein Stein landet auf der Frontscheibe des Autos, mit dem das Filmteam auf einer Landstraße im Nirgendwo unterwegs ist. Die Spur des Einschlags zeigt sich als Spinnennetz aus gesplittertem Glas, die zerklüftete Gebirgslandschaft, auf die Simones forschender Blick fällt, sieht aus wie ein Tarnbild. Das System geheimer Machenschaften und undurchsichtiger Netzwerke setzt Polat in Form gut lesbarer Allegorien ins Bild.
Der Beobachter wird observiert
Bald verschwindet einer der Protagonisten des Films, ein Menschenrechtsanwalt. Aber auch Meleks Vater Zafer (Ahmet Varli), der für eine Antiterror-Einheit arbeitet und an Entführungen und Folter beteiligt ist, gerät ins Visier. Von einem anonymen Stalker werden ihm auf seinem Smartphone Videos zugespielt, auf denen er selbst als Objekt einer Observierung vorgeführt wird.
In seiner Paranoia beginnt er seinerseits die eigenen Mitarbeiter heimlich mit dem Handy zu filmen, durch ihre Übersetzungstätigkeit für das Filmprojekt fällt sein Verdacht außerdem auf die Nachbarin Leyla.
„Im toten Winkel“ ist ein in seiner Undurchsichtigkeit letztlich doch recht übersichtlicher Film. Mit jedem Kapitel rückt eine andere Figur ins Zentrum, die Blickperspektiven und Bildtypen – verfolgende Handkamera, entsättigte Weitwinkelkamera – sind ineinander verschachtelt, Handlungen überlappen und wiederholen sich. Das Konzept dahinter aber bleibt stets im Vordergrund und wird bis zum Ende durchexerziert.
Die Figuren haben in diesem Gerüst nicht allzu viel Raum zur Entfaltung, die Menschen wirken darin wie Spielfiguren einer höheren Macht. Welche Instanzen hinter der Observation stehen und welche Interessen genau damit verbunden sind, ist eher nebensächlich. Polat geht es weniger um Investigation und Entschlüsselung als um das mentale Bild einer von Geistern heimgesuchten Gesellschaft.
Die Idee zu ihrem Film kam Polat durch die sogenannten Sonntagsmütter, die in Istanbul – bis zum endgültigen Verbot der türkischen Regierung 2018 – bei wöchentlichen Kundgebungen nach dem Verbleib ihrer verschwundenen Angehörigen fragten und Aufklärung forderten.
Sie hielten dabei Fotos der Vermissten in den Händen. Zur Verkörperung dieses kollektiven Gedenkens wird in „Im toten Winkel“ die mysteriöse Melek. Gegen ihre medialen Fähigkeiten wirken die herkömmlichen Bildmedien begrenzt und geradezu hilflos. Ihr bohrender Blick durchdringt die Schichten der Zeit und der Erde, unter der die Ermordeten verscharrt sind.