Die Erfindung der Kultmarke Brecht: Von Null auf Klassiker

In den Jahren 1921/22 setzt der arme Bertolt Brecht „aus den schwarzen Wäldern“ alle Hebel in Bewegung, um seiner Karriere als Dichter und Theatermacher auf die Sprünge zu helfen. Seit Anfang 1919 hat er ein zweites Stück in Arbeit, das „Spartakus“ heißen soll. Auf Anraten von Lion Feuchtwangers Frau Marta wird es in „Trommeln in der Nacht“ umbenannt.

Im Gegensatz zum feucht-wuchernden „Baal“, seinem ersten Dramenentwurf, hat es eine klare Fünf-Akt- und stärker ausgeprägte Dialogstruktur, enthält ebenfalls lyrisch-musikalische Passagen und unterläuft das aristotelische Schema der Einheit von Raum, Zeit und Handlung rigoros durch anti-illusionistische Elemente. Damit hat er mehr Glück. Feuchtwanger ist begeistert und zählt fortan zu seinen wichtigsten Förderern.

Schon in jungen Jahren erweist sich Brecht als ein Meister der Selbstvermarktung mit ausgezeichnetem Netzwerk. Von seinem langjährigen Freund und Bühnenbildner Caspar Neher ist der Ausspruch überliefert, Brecht habe Bekanntschaften „wie Pilze“ gesammelt. Seine ersten Aufenthalte in Berlin nutzt er ab Februar 1920 zielstrebig, um Kontakte zu einflussreichen Repräsentanten des hauptstädtischen Kulturbetriebs aufzubauen.

Jetzt drängle ich mich überall rein.

Bertolt Brecht

Dazu gehört neben Herbert Ihering vom Berliner Börsen-Courier, der zu den wirkungsmächtigsten Theaterkritikern der Weimarer Republik gehört, der Kiepenheuer-Lektor Hermann Kasack, Schauspielprominenz und auch der skandalumwitterte, später nach rechts abdriftende Jungdramatiker Arnolt Bronnen, den Brecht Anfang 1922 auf einer Party kennenlernt. „Jetzt drängle ich mich überall rein“, lautet die nach Bayern übermittelte Devise.

Um ihre Kumpanei in Form einer literarischen „Firma“ nach außen hin sichtbar zu machen, verwandelt der drei Jahre jüngere Brecht den drögen „Berthold“, der in seinem Pass steht, in den schnittigen „Bertolt“ und übernimmt auch Bronnens Kleinschreibung ohne Satzzeichen – ein erster Schritt zur Selbststilisierung als Kultmarke mit Wiedererkennungswert, der auch nach Beendigung ihrer aus Bronnens Sicht „unvollendeten“ Zusammenarbeit nicht rückgängig gemacht wird.

Zu den Markenzeichen der Figur Brecht gehört von Anfang an ein charakteristisches Erscheinungsbild: die schäbige kleine Drahtbrille, die Monteurjacke über dem saloppen Sporthemd, der kurzgeschorene Schädel und die Zigarre im Mundwinkel.

Bertolt Brecht.
Bertolt Brecht.
© dpa

Otto Falckenberg, umtriebiger künstlerischer Leiter der Münchner Kammerspiele, entschließt sich dazu, „Trommeln in der Nacht“ als erstes Stück des jungen Brecht, der sich selbst als kommenden „Klassiker“ sieht, am 29. September 1922 zur Uraufführung zu bringen. Was nun einsetzte, nannte Ihering eine wahre „Brechthausse“. Er sorgte dafür, dass sein Protegé am 21. November 1922 mit der wichtigsten literarischen Auszeichnung der Weimarer Republik, dem mit 10.000 Reichsmark dotierten Kleist-Preis, geehrt wurde, der vor ihm schon Oskar Loerke, Arnold Zweig oder Hans Henny Jahnn aus den Startlöchern geholfen hatte.

Brecht hatte als Promotor in eigener Sache offenbar einen ausgeprägten Instinkt für das Zusammenwirken von Charisma und eben noch zumutbarer Provokation. Dass er im Zuschauerraum der Kammerspiele Plakate mit der Aufschrift „Glotzt nicht so romantisch!“ hatte anbringen lassen, passte in eine Zeit, die sich nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Wertesystems der Sachlichkeit und einem abgeklärten Materialismus zuneigte. Wenn gegen Ende des Stücks der gewerbsmäßige Illusionsapparat als das gekennzeichnet wird, was er ist – „Es ist gewöhnliches Theater. Es sind Bretter und ein Papiermond“ –, wird die Tür zum „epischen Theater“ schon weit aufgestoßen.

Der Spartakusaufstand führte zu schweren Unruhen im Deutschen Reich

Wovon handelt Brechts Bühnenpremiere, die seit der Suhrkamp-Ausgabe der frühen Stücke Anfang der 1950er Jahre als „Komödie“ geführt wird? Hintergrund der Handlung ist mit dem Spartakusaufstand, dem Nachgang zur Novemberrevolution im Jahr zuvor, ein aktuelles zeitgeschichtliches Ereignis, das durch die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts schwere Unruhen im gesamten Deutschen Reich auslöste.

Brechts Hauptfigur Andreas („Andree“) Kragler ist ein Kriegsheimkehrer, der nach vierjähriger Gefangenschaft unvermittelt bei den Balickes in Berlin auftaucht, mit deren Tochter Anna er verlobt war und nun feststellen muss, dass die Wartende sich auf Drängen ihrer Eltern soeben mit dem Kriegsgewinnler Murk verlobt hat. Anna hat von ihm einen „Balg im Leib“ und bereut ihre Nachgiebigkeit, als das „Gespenst“ ihres einstigen Geliebten die Verlobungsfeier crasht. Zwei Akte lang sieht es so aus, als würde Kragler von den Unruhen in den Zeitungsvierteln verschlungen werden, ehe im letzten Akt die Kehrtwende erfolgt: Kragler will keine Revolution machen. Er will einfach nur sein Mädchen zurück und mit ihr zusammen heimgehen.

Die Frage ist, welche Schlüsse aus dieser letzten Wendung gezogen werden sollen. Ist „Trommeln in der Nacht“ eine Antirevolutionskomödie, die der Fortsetzung des Kriegs unter anderen Vorzeichen mit einer souverän-individuellen, fast schon bourgeoisen Abwendungsgeste begegnet? Ist Kragler eine Identifikationsfigur, die das Heft des Handelns selbst in die Hand nimmt, oder verkörpert er den Typus des deutschen Drückebergers, der dafür verantwortlich ist, dass sich nichts ändert?

Brechts Haltung zu diesem zentralen Punkt erscheint auch im Nachhinein nicht recht eindeutig. Die Agitationen der Kommunisten waren seine Sache nicht. Aber auch die Auffassung des Stücks als „Individualdrama“ mochte er nicht teilen. Für den jungen Brecht wird vorrangig gewesen sein, dass er sein erstes Stück auf die Bühne gebracht und unter dem Applaus des Premierenpublikums ins Rampenlicht getreten war. A Star was Born!

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