Ukrainisches Kriegstagebuch (196): Zu Besuch bei Roman Pyatkovka
15.3.2024
Alle Teilnehmer*innen des Jewish Music Today Festivals Fürth sind im selben Hotel untergebracht und treffen sich morgens beim Frühstück, so wie die israelische Sängerin Victoria Hanna und ich gerade. Wir zwei bleiben die ganze Woche hier, da wir nicht nur Konzerte spielen, sondern auch einen Workshop für die Jugendlichen leiten.
An unserem Tisch setzt sich auch Gershon, Victorias Musikerkollege, der erst am vergangenen Abend aus Israel angereist ist. „Da merkt doch jeder, dass ihr beide aus demselben Dorf kommt!“, meint Victoria lachend, als wir nebeneinander sitzen (dass wir uns ähnlich sehen, hat sie mir in den letzten Tagen schon öfter gesagt).
Ich erkläre, dass mein Dorf Charkiw in der Ukraine liegt, und Gershon berichtet, er sei als kleines Kind mit seiner Familie aus Tadschikistan nach Israel gekommen. Er spricht mich auf russisch an, zögert dann jedoch und wechselt wieder zum Englischen. Seine Vorfahren stammen aus Odessa, erzählt er und bedauert, dass er kein Ukrainisch beherrscht.
Während wir uns zu dritt unterhalten, tauchen immer wieder Dinge auf, die ich sonst nur aus den Gesprächen mit ukrainischen Kollegen kenne. Phrasen wie „Als die Bomben jeden Tag auf unser Viertel fielen …“ oder „Momentan weniger Auftritte wegen des Krieges“ fallen im Alltagston.
Portal in eine andere Welt
„Wow“, sagt Victoria, als sie das Foto auf meinem iPhone sieht, „bist du heute Abend etwa von Frank Zappa eingeladen worden?“ Ich lächle und denke daran, wie ich vor ein paar Jahren Roman Pyatkovka, die Person auf dem Bild, vor einem Café in der Nähe der Charkiwer Universität gesehen habe – sein Gesicht war mir sofort vertraut, da ich ihn aus Berichten über die Charkiwer Schule der Fotografie kannte. Mit seinen langen schwarzen Locken und dem perfekt geformten Bart hätte Roman die Rolle des französischen Königs Ludwig XIII. in der Verfilmung der „Drei Musketiere“ problemlos übernehmen können, dachte ich damals.
Kennengelernt haben wir uns letzte Woche bei der Eröffnung der Ausstellung „Ukrainian Dreamers“ in der Kommunalen Galerie Berlin. Zusammen mit Kateryna vom Ukrainischen Institut betrachtete ich die Werke Pyatkovkas aus der Serie „Die Spiele der Nackten“ von 1988, in der Bilder einer pompösen Demonstration auf dem Zentralplatz von Charkiw mit der Armee, dem Lenin-Denkmal und den überdimensionalen Porträts der KP-Politbüromitglieder auf die unbekleideten Körper der Modelle projiziert wurden.
Auf einmal stand der Künstler direkt neben uns und Kateryna, die ihn bereits kannte, stellte uns einander vor. Roman lebt mit seiner Frau seit zwei Jahren in Nürnberg. Als er hörte, dass ich demnächst in der Nähe sein würde, lud er mich zum Abendessen ein.
Pyatkovkas Wohnung in Nürnberg ist wie ein Portal in eine andere Welt – wäre ich mir in diesem Moment nicht ganz sicher gewesen, wo ich mich befinde, hätte ich mir einreden lassen können, dass wir in Charkiw sind. An den Wänden hängen Bilder von zwei seiner älteren Kollegen, Oleg Maliovany und Boris Mikhailov. Letzteren nennt Pyatkovka seinen Lehrer und erzählt, wie er, ein ausgebildeter Lichtdesigner, vor vielen Jahren seine Arbeit am Charkiwer Jugendtheater aufgab, um Mikhailov zu folgen.
Samisdat-Buch über den Holodomor
Ende der 1980er versammelte sich die alternative Szene unserer Heimatstadt in einem Café im Freien am Charkiwer Broadway, der Sumska Straße. Später wurde mir klar, dass während ich dort mit meinen 17 Jahren billigen Wein trank, rauchen lernte und über die Dead Kennedys plauderte, auch sie dort waren – die Herren, die mir so normal und sogar alt erschienen. In der Tat sind sie die wahren Punks gewesen, bloß nicht in der Musik-, sondern in der Kunstwelt, ihre Arbeit war frech, innovativ und antisowjetisch.
In unseren Freundschaftskreisen hat man fast ausschließlich russisch gesprochen. Mir fällt ein langhaariger Dichter mit einem massiven Schnurrbart ein, den ich damals oft gesehen habe – unter der Charkiwer Bohème war er einer der ganz wenigen Ukrainischsprachler.
Als ich ihn erwähne, weiß Roman sofort, von wem die Rede ist: „Ja, natürlich, Stepan Sapeliak!“, und erzählt mir, dass sie Nachbarn waren, und daher oft zusammen in der U-Bahn fuhren. Sapeliak, der wegen „antisowjetischer Agitation“ jahrelang im Gulag war, hat Pyatkovka ein Samisdat-Buch über den Holodomor gegeben – ein Thema, das in der sowjetischen Ukraine totgeschwiegen wurde. Für den Fotografen war es eine Offenbarung, die die Serie „Holodomor. Phantome der 1930er Jahre“ inspirierte.
Unbemerkt sind vier Stunden vergangen, und nun muss ich mich dringend auf den Rückweg machen, sonst verpasse ich den letzten Bus. Doch wir werden unser Gespräch auf jeden Fall eines Tages fortsetzen – sei es hier in Nürnberg, in Berlin oder sogar in Charkiw!