Per Raumschiff in eine neue Welt
Der dritte Song auf Patti Smith’ legendärem Debütalbum „Horses“ aus dem Jahr 1975 ist das etwa neunminütige „Birdland“. Es handelt von einem Jungen, der nach der Beerdigung seines Vaters vor dessen Farm steht und glaubt, ein Raumschiff zu sehen – mit dem Vater an der Steuerkonsole. Der Junge fleht ihn an, ihn mitzunehmen, was nicht geschieht.
Das teils in einem hochdramatischen Sprechgesang vorgetragene Lied gehört nicht zu den populärsten von Patti Smith. Doch für die Berliner Autorin und Filmemacherin Helene Hegemann ist es von immenser Bedeutung. Sie widmet ihm sogar ein ganzes Kapitel ihres Langessays „Patti Smith“, der in der KiWi-Musikbibliothek-Reihe (112 Seiten, 10 €) erscheint.
Bewunderung für Christoph Schlingensief
In „Birdland“ habe Smith treffend „eine Bestandsaufnahme des Gefühls geliefert, das ich nach dem Tod meiner Mutter ständig hatte, ich hielt mich für ein schwächliches Monster ohne Existenzberechtigung, für etwas, das besser ins All oder Jenseits gepasst hätte als in die Welt“. Hegemann ist 13 Jahre alt, als ihre Mutter stirbt, sie lebt danach allein in der gemeinsamen Zweizimmer-Wohnung. Sie habe Möbel kaputtgeschlagen, versucht, sich selbst den Arm zu brechen, tagelang auf dieselbe Stelle gestarrt und kein einziges Mal geweint, schreibt sie.
Und dann geschieht etwas, dass sie von dem Jungen in „Birdland“ unterscheidet: Anders als er sei sie nämlich „tatsächlich von diesem Raumschiff abgeholt worden“. Es ist ein Billigflieger, der sie nach Wien zu ihrem ihr fast unbekannten Vater Carl Hegemann bringt, dem Dramaturgen von Christoph Schlingensief.
Die Begegnung mit den beiden ist lebensverändernd. Die Teenagerin landet auf einem neuen Planeten, der erstmal in Form eines Müllberges im Zuschauerraum des Burgtheaters manifestiert. Ein Anblick, der bei ihr ein Gefühl von ungeahnter Erleichterung auslöst: „Die Erkenntnis, dass jede Abweichung der Norm, jede Eigenschaft, für die ich mich in Grund und Boden schämte, an diesem Ort zur Bedingung dafür wird, überhaupt mitmachen zu dürfen.“
An diesem Ort sitzt kurz darauf auch Patti Smith herum. Hegemann hält sie für eine Obdachlose. Die Geschichte dieses Treffens, das im ersten Satz des Essays angedeutet wird, zögert die Autorin kunstvoll bis zum Ende hinaus. Stattdessen geht es erstmal um ihr kindliches Musiktrauma, ihre Bewunderung für Schlingensief und dessen Verhältnis zu Smith.
Das ist wie meistens bei Hegemann, die vor elf Jahren mit ihrem Debütroman „Axolotl Roadkill“ bekannt wurde, mit großer sprachlicher Wucht und mit Witz geschrieben, packend und auch mal schockierend. Dass sie zu Beginn ein bisschen auf Patti Smith rumhackt und behauptet, ihr gegenüber „konfuse Genervtheit“ zu empfinden, dient dem Spannungsaufbau.
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Wobei man sich wünschte, Hegemann hätte sich die misogyne Bemerkung gespart, dass Smith auf Instagram wirkt „wie eine nette Hausfrau.“ Auch scheint sie etwas zu viel Rebellionsgeist in die Musikerin und Autorin hineinzuprojezieren und deren Reichtum stark zu überschätzen, wenn sie schreibt: „Es stellt sich die Frage, warum jemand, der den äußersten Rand der Gesellschaft zu überschreiten versucht hat und damit erfolgreich war, finanziell erfolgreich, weltweit erfolgreich, die Distanz zu dieser Gesellschaft restlos aufgegeben hat.“
Patti Smith ist 74, sie schwimmt nicht in Geld. Dass sie neuerdings Werbung für eine Kofferfirma macht, dürfte damit zusammenhängen. Punk ist das nicht, eher ein Hinweis auf die Lebenshaltungskosten in New York.
Glücklicherweise relativiert sich Helene Hegemanns Furor im Verlauf des Textes, der natürlich viel mehr von ihr als von Smith handelt. Was ihn aber nicht weniger lesenswert macht.