„Die Menschen wollen rohe Musik”

Mister Vile, Ihr neues Album ist gewaltig: 15 Songs auf über 70 Minuten. Ich habe gelesen, Sie hatten sogar noch mehr Material zur Auswahl.

Ja, das ist meistens der Fall. Keine B-Seiten, keine Füller. Für mich muss jeder Song ein Knaller sein – also zumindest meine Version davon.

Wie entstehen Ihre Songs?
Meistens schreibe ich in Notizbüchern vor mich hin. Oder ich nehme eine Gitarre in die Hand und verirre mich zwischen ein paar Akkorden. Ich höre auch gern Radio und lasse mich von anderen Songs inspirieren.

Was für Musik ist das?
In letzter Zeit höre ich viele alte R’n’B-Sachen, dabei passiert etwas in mir. Ich bin eben nur ein weißer Dude, manchmal braucht man da Inspiration von Leuten mit Soul (lacht).

Stimmt es, dass Sie vor der Pandemie kurz vor dem Burn-out standen?

Das stimmt. Früher habe ich zu viel über Musik nachgedacht. Wenn ich einmal nicht geschrieben habe, hatte ich gleich das Gefühl: „Oh Mann, was passiert hier?“ Mittlerweile versuche ich, das Musikmachen nicht mehr zu erzwingen.

Hat die Lockdown-Erfahrung Ihren Arbeitsprozess verändert?
Ich glaube schon. Ehrlich gesagt, wurde mein Tagesablauf gesünder. Ich gehe mittags runter in mein neues Heimstudio im Keller – oder sogar früher, wenn ich die Leute dazu bringen kann, vormittags aufzutauchen. Zum Abendbrot sind wir fertig, und ich kann eine Auszeit mit der Familie nehmen.

[„Watch My Moves“ erscheint bei Virgin. Das Konzert ist am 15.9. im Huxleys.]

Daheim in Philadelphia laden Sie Journalist:innen schon mal zu sich nach Hause ein. Ihre Töchter kommen dann in Interviews zu Wort, auf dem Cover der neuen Platte sind die beiden auch zu sehen. Haben Sie da keine Bedenken?
Meine Frau und ich sind definitiv beschützend. Aber unsere Töchter sind eben Teil meines Lebens und auch des Musikmachens. Ich lege Wert auf ihre Meinung und frage sie, inwieweit sie involviert sein möchten.

Sie sind mit neun Geschwistern aufgewachsen. Gab es damals schon viel Musik in Ihrem Leben?
Ja, die meisten in meiner Familie machen auf die eine oder andere Weise Musik. Meine Eltern haben mich darin auch sehr unterstützt.

Ihr Vater liebte alte Country-Musik.
Mein Dad hat seine Bluegrass-Songs immer wieder und wieder gehört, geradezu obsessiv.

Und Ihnen ein Banjo geschenkt …
Ja, als ich 14 wurde, habe ich eins zum Geburtstag bekommen.

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Ich glaube, mit 14 hätte ich mich mehr über eine Gitarre gefreut …
Ich wollte auch eigentlich eine Gitarre. Glücklicherweise wohnte mein älterer Cousin in unserer Straße, der war mein bester Freund. Er spielte schon damals in Bands und meinte: „So ein Banjo ist schon ziemlich cool, irgendwie anders.“ Deswegen fand ich es dann auch cool.

Vorher in der Highschool spielten Sie Trompete in einer Blaskapelle.
Ja, und ich war schon gut, wenn auch nicht umwerfend. Aber ich konnte Musik schnell verinnerlichen. Manchmal habe ich Lust, wieder Trompeten-Unterricht zu nehmen, weil es die einzige Musik ist, die ich auch gelernt habe zu lesen. Auf diese Weise könnte ich Arrangements schreiben und Verbindungen zu anderen Stilrichtungen ziehen.

In Ihrer Musik spürt man zwei Tendenzen: den Umgang mit Einflüssen, aber auch diesen punkigen Do-it-yourself-Ansatz. Wie würden Sie diese Balance beschreiben?
Ich mag es, wenn Musik sich mühelos anfühlt. Ich glaube, die meisten Menschen wollen etwas Rohes hören – vielleicht auch, ohne es zu wissen. Es trifft einen am stärksten. Das bedeutet aber nicht, dass ich mir nicht tonnenweise Gedanken mache, was ich alles ausprobieren will.

Es gibt diese Brecht’schen Momente in Ihrer Musik …
Brecht? Wie in Bertolt?

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Genau. Als ob Sie beim Singen kurz aus dem Song heraustreten und sagen: Schaut her, das ist, was ich hier gerade mache.
Das ist cool. Ich habe eine Zehn-CD-Box von Brecht und Weill, die hat mich durch den Lockdown begleitet.

Wussten Ihre Eltern, dass es da diesen Komponisten namens Kurt Weill gab?
Nein, sie kannten ihn nicht. Aber viele Musiker reden noch immer über ihn und seinen Einfluss, auch Bob Dylan. Das sind einfach Meisterwerke. Die Musik ist so gut komponiert – und ebenfalls sehr roh.

Es gibt auf Ihrem Album viele scheinbar persönliche Referenzen zu entdecken. Sind Sie das lyrische Ich in Ihren Songs?
Die Stücke sind meistens autobiografisch, ja. Aber es kann zwischendurch schon mal psychedelisch werden, es gibt da keine festen Regeln.

Der Opener „Going On A Plane Today” handelt von Flugangst. Leiden Sie darunter noch immer?
Nein, nicht mehr. Nach der Pandemie habe ich mich an Bord eines Flugzeugs gewagt. Voll vorbereitet, ich hatte all meine Medikamente dabei. Aber ich musste sie nicht mehr nehmen.

Stimmt es, dass Sie auch keinen Alkohol mehr trinken?
Ja, als ich mein vorheriges Album „Bottle It In“ fertig hatte, ließ ich das Trinken sein. Ich wusste, dass ich so nicht auf Tour gehen konnte. Ich musste aufhören.

Also ist „Watch My Moves“ Ihr erstes Album, dass ohne den Einfluss von Alkohol entstanden ist?
Ja, ich hatte den gesamten Entstehungsprozess über Zeit, mich daran zu gewöhnen. Zu Beginn fühlte es sich noch merkwürdig an, und ich musste auch mal Medikamente gegen Angstzustände nehmen.

Ihre Musik klingt dennoch drogenselig.
Ich habe in meinem Leben ziemlich viel gefeiert. Manchmal ist es schön, seinem Gehirn Urlaub zu gönnen. Während ich die Platte aufnahm, habe ich auch hin und wieder ein bisschen Gras geraucht. Doch selbst darauf habe ich empfindlich reagiert. Für eine Minute funktioniert es, dann werde ich paranoid (lacht).