Keiner wollte freiwillig Deutscher sein

14. 4. 2022

Bei uns war Ende der achtziger Jahre eine spannende Zeit – die Epoche der großen Veränderungen, in allen Republiken der Sowjetunion. Aus unserer Schule Nr. 89 zum Beispiel wurde ein „Lyzeum“. Früher hätten wir nicht gedacht, dass unsere Direktorin Tamara Ivanovna eine echte Innovatorin war … aber plötzlich hatten wir neue, exotische Fächer wie Latein und Religion.

Religionsunterricht in einer sowjetischen Schule – das klang wie ein schlechter Witz, so was hätte man sich eigentlich nicht vorstellen können. Als ich ihnen davon erzählte, dachten meine Eltern, ich verarsche sie. Denn wir lebten in einem atheistischen Land und wenn es bei uns eine Religion gab, dann nur eine, und zwar den Zweiten Weltkrieg, oder genauer gesagt: den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie man die vier Jahre des Kampfes der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland nannte (und in russland noch bis heute nennt).

In russischen Filmen sprachen die Nazis gutes Deutsch

Das Thema des Krieges und der heroischen Konfrontation des sowjetischen Volkes war omnipräsent, im Schulprogramm, in der sowjetischen Literatur sowie natürlich im Fernsehen. Schon in den ersten Schuljahren mussten wir dazu unendlich viele Bücher lesen und Gedichte auswendig lernen. Abends zu Hause konnte man sich mit der Familie vorm Fernseher entspannen und die populären Serien und Filme zum Thema anschauen: „Die 17 Augenblicke des Frühlings“, „Der Schild und das Schwert“, „Die Geschichte eines echten Mannes“. Die gut aussehenden Soldaten und Spione darin besiegten immer die bösen Deutschen.

Was hätten wir Kinder daraus lernen sollen? Dass Faschismus etwas ganz, ganz Schlimmes ist. Vielleicht das Schlimmste überhaupt. Und dass wir, dass „die Unseren“ die Nazis 1945 geschlagen haben und dass es sich verdammt gut angefühlt hat. Am 9. Mai, Tag des Sieges, gab es immer eine große Militärparade. Es war ein Feiertag, wir mussten nicht zur Schule und konnten uns die Liveübertragung vom Roten Platz in Moskau anschauen.

Am Abend war Feuerwerk, und das gab’s nur bei den ganz großen Festen; wie auch am 23. August, am Tag der Befreiung Charkiws von den Nazis 1943. Wir wohnten in der Straße des 23. August, was ich sehr praktisch fand, weil das Feuerwerk aus unserer Straße sehr gut zu sehen war – besonders wenn man vor dem Riesendenkmal des Befreiersoldaten stand.

Im August 1943 wurde Charkiw von den Nazis befreit. Heute liegt die Stadt wieder in Trümmern.Foto: dpa

In unserem Hof haben wir oft mit anderen Nachbarskindern Krieg gespielt. „Na, wer will heute Deutscher sein?“, würde Serhij aus dem zweiten Stock fragen. Freiwillige gab es selten, aber ohne Deutsche ging es nicht, wir brauchten sie, um gegen sie zu kämpfen, um sie dann zu besiegen. In den sowjetischen Filmen hat man fast immer russisch gesprochen. (Nur die Nazis nicht, ihr Deutsch war immer erstaunlich gut.) Aber unter den Figuren im Film gab es natürlich nicht nur russen und Deutsche.

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Manchmal waren es auch Menschen aus den anderen Republiken der Sowjetunion, unter ihnen auch Ukrainer. Man hat sie als lustige Typen dargestellt, die häufig ein bisschen naiv waren. russisch haben sie oft mit ukrainischem Akzent gesprochen. Aber es gab auch andere Ukrainer in den Filmen – die waren nicht lustig, sondern im Gegenteil, ganz, ganz böse. Die rechten „Banderiten“, die ukrainischen Nationalisten, sie waren gegen alles und alle und kamen wie die besten Freunde der Nazis rüber …

77 Jahre, Hunderte Filme, Tausende Bücher später ist russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert. Die Soldaten der russischen Armee zerstören das Land und bringen täglich Ukrainer um. Oft sind ihre Opfer Zivilisten. Vor dem Tod werden sie gefoltert, Frauen und Kinder werden vergewaltigt, wehrlose Menschen werden verstümmelt. In keiner der vier Sprachen, die ich spreche, finde ich passende Worte, um die russen zu beschreiben. Nein, die russen von heute sind keine Denazifikatoren, die sind die neuen Übernazis.