Radikaler Opportunismus

Diesem Roman sind zwei Zitate vorangestellt, die konträrer kaum sein können. Einmal von Moses Mendelssohn, dem jüdischen Philosophen und Verfechter der Aufklärung: „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun – das ist die Bestimmung des Menschen.“

Darunter steht ein Zitat von Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust: „Ein Herrenvolk muss in der Lage sein, Menschen, die für die Gemeinschaft schädlich sind, aus der Gemeinschaft ohne christliche Barmherzigkeit auszuschalten.“

Wer nach diesem Auftakt glaubt, dass auch die Ästhetik von Alexa Hennig von Langes Romans „Die karierten Mädchen“ (Dumont Verlag, Köln 2022. 377 Seiten, 22 €.) mit dem Mittel der Konfrontation arbeitet, wird enttäuscht werden. Dabei sagen in der biographisch grundierten, auf drei Bände angelegten Geschichte viele prominente NS-Größen ähnliche Gruselsätze.

Die zentrale Erzählinstanz ist eine warmherzige, gleichsam zielstrebige Frau, die mittlerweile über 90 Jahre alte Klara. Sie ist blind und wacklig auf den Beinen, ihr Geist aber scheint weiterhin rege zu sein. Vor ihrem Tod möchte sie nochmal eintauchen in eine schmerzhafte Vergangenheit, über die sie Jahrzehnte kaum ein Wort verloren hat.

Der Roman beruht auf den Lebenserinnerungen von Hennig von Langes Großmutter

Sie bespricht Kassetten mit ihren Erinnerungen, „um ihren Kindern und vielleicht auch Enkelkindern begreiflich zu machen, wie eins zum anderen gekommen war.” Die harmlose Formulierung, die Hennig von Lange der betagten Protagonistin in den Mund legt, erzählt etwas über den Charakter der Figur, für die es auch ein familiäres Vorbild gibt.

Im Nachwort erklärt die Autorin, dass der Roman auf den Lebenserinnerungen ihrer Großmutter beruht und dass die hochbetagte Frau tatsächlich mehr als 130 Kassetten besprochen hat. Kurioserweise tauchen in dem Buch keine Sätze auf, die als Originalton aus dem umfangreichen Audiomaterial markiert sind – was insbesondere im Fortgang der Geschichte verwundert, wenn es um die Verstrickung der Lehrerin Klara im gleichgeschalteten NS-Ausbildungssystem geht.

Es ist durchaus von Belang, ob der Rückblick der Großmutter eher eine selbstkritische Lebensbeichte oder doch eine Rechtfertigung ist. Mit transkribierten Passagen aus dem Kassenkonvolut wäre die Aufarbeitung dieser bitteren Biografie nicht nur vielstimmiger, sondern auch widersprüchlicher ausgefallen. Statt auf die Montage unterschiedlicher Textsorten setzt Hennig von Lange durchweg auf einen gefälligen Erzählstil, in dem selbst die Reichsjugendführerin Gertrud Scholtz-Klink im milden Sepia-Licht erscheint.

So erscheint Klara Möbius hier als rundum liebenswerte, lebensfrohe Person, ganz im Geiste eines Moses Mendelssohns. Zunächst hat sie allen Grund optimistisch zu sein, immerhin übernimmt sie in den unsicheren Zeiten Ende der 1920er Jahre eine begehrte Stelle als Lehrerin in einem Heim für kranke Kinder.

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Die im anhaltinischen Oranienbaum gelegene Einrichtung ist von staatlichen Zuschüssen abhängig, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise leider immer geringer werden. Die ökonomischen und politischen Verhältnisse spitzen sich zu; die Nationalsozialisten gewinnen eine Wahl nach der anderen. Alexa Hennig von Lange beschreibt den Niedergang des Heims parallel zu den gesellschaftlichen Umbrüchen durchaus anschaulich. Hier merkt man, dass sie auf Dokumente mit vielen Detailschilderungen zurückgreifen kann.

Bald kommt es zu einem folgenschweren Konflikt: Klara fungiert mittlerweile als Leiterin des Kinderheims und entscheidet sich, mit den neuen Machthabern zu kooperieren, um die Institution und ihre Anstellung zu retten. Innerlich rebelliert sie wohl gegen die NS-Ideologie, nach außen hin gibt sie sich stets gesprächsbereit und umsetzungsstark.

Sie wird befördert, übernimmt ein größeres Heim, das sie zu einer zweifelhaften Ausbildungsstätte umfunktioniert, in dem junge Frauen auf ihre Mutterrolle im NS-Staat vorbereitet werden. Selbst den gewünschten Dresscode führt Klara ein. Die Bewohnerinnen tragen fortan Dirndl und werden dementsprechend die „karierten Mädchen“ genannt.

Alexa Hennig von Lange muss sich gefragt haben, was die Großmutter bewegte, die lokale und überregionale Nazi-Elite immer freundlich zu empfangen, alle Vorgaben zu erfüllen und in der Hierarchie der NS-Frauenausbildung aufzusteigen.

„Sie hatte keine feste Meinung zu dem, was politisch passierte“, heißt es an einer Stelle. Diese indifferente Haltung, die wohl für die literarische Figur und die reale Großmutter gleichermaßen zutrifft, scheint die Enkelin nicht überzeugt zu haben: „Deshalb habe ich meiner Hauptfigur literarisch das kleine jüdische Waisenmädchen Tolla an die Seite gestellt.“

Frauenbewegte Position

Klara schützt das Kind, indem sie sich als Mutter ausgibt. Nur wenige wissen von dem gefährlichen Geheimnis. Für den Roman aber wird der zunächst rührende, streckenweise rührselige Erzählstrang zum inhaltlichen Problem. Die Schuld haben häufig die bösen Schergen in den höchsten Ämtern.

Klara wird erzählerisch entlastet und kann weiterhin als halbwegs gute Deutsche durchs Leben gehen. Wie schmerzhaft wäre die Aufarbeitung dieser Biografie ohne das jüdische Waisenkind, das es in Wahrheit nie gab? Um den Unterhaltungsroman zu runden, nimmt die Schriftstellerin eine Geschichtsklitterung in Kauf.

Nach der Reichspogromnacht organisiert Klara einen Platz auf den legendären Kindertransporten nach England. Sie wird Tolla vor der Abreise noch über ihre wahre Herkunft aufklären und dann nicht mehr wiedersehen. Die Trauer ist groß, der Ruf im Reich aber ist gewahrt.

Heinrich Himmler wird Klaras Frauenbildungsheim besuchen und ihr eine Führungsposition im Lebensborn-Verein anbieten. Schwangere Frauen zur Adoption ihrer unehelichen Kinder zugunsten von SS-Familien zu bewegen, lehnt Klara immerhin ab. Noch während der Himmler-Visite klärt sie für sich, worauf es wirklich ankommt: „Das Ganze verlief in einer guten, harmonischen Atmosphäre, wie Klara erleichtert feststellte.“

Der radikale Opportunismus der Hauptfigur wird auch durch ihre frauenbewegte Position erklärt, die Arbeit selbst unter widrigen Bedingungen nicht zugunsten etwa der Mutterrolle aufzugeben. Insofern steckt in dem Buch ein weiteres wichtiges Thema, für das die Autorin keine literarische Form jenseits der weichgezeichneten Erinnerungsprosa findet. Dieser Roman ist leider eine Ansammlung vertaner Chancen.