Der Diktator, ein Diener des Volkes

Bereits seit den 1990er Jahren gibt es bei der Pflege von Barockmusik in historisch informierter Aufführungspraxis eine enge Zusammenarbeit zwischen Innsbruck und Berlin. Unter der künstlerischen Leitung von René Jacobs kooperierten die Tiroler „Festwochen für Alte Musik“ und die Staatsoper Unter den Linden in mehreren Projekten. Fünf Mal hat Georg Quander, Intendant in Berlin von 1991 bis 2002, in Innsbruck bereits Regie geführt. 2023 wird er seine dortige Inszenierung der Oper „Silla“, eines dramma per musica des Berliner Hofkapellmeisters Carl Friedrich Graun, auch bei den von ihm gegründeten Osterfestspielen in Schloss Rheinsberg zeigen.

Eine Verbindung zwischen der ehemaligen Habsburgerresidenz und Berlin lässt sich durchaus historisch legitimieren. In Innsbruck wurde bereits im 17. Jahrhundert das erste freistehende Opernhaus nördlich der Alpen erreichtet, hundert Jahre später wurde Berlin unter dem Preußenkönig Friedrich II. zu einem europäischen Zentrum der Opernpflege. Für das Frühjahr 1753 hatte der König nicht nur bei Graun, sondern auch beim Dresdner Hofkapellmeister Johann Adolph Hasse jeweils eine Oper bestellt. Doch von deutscher Barockoper kann man hier nur bedingt sprechen: Das Libretto hatte der philosophierende König auf Französisch verfasst und dann von Giovanni Pietro Tagliazucchi, einem seiner Hofdichter, für seine italienische Truppe übersetzen lassen.

Der grausam seine Gegner ausschaltende römische Tyrann Sulla, der überraschend als Diktator zurücktritt, wurde immer wieder zum Opernhelden. Friedrichs Version ist stringent dem Menschenbild der Aufklärung verpflichtet, und auch musikalisch lässt sich bisweilen schon Mozarts „La clemenza di Tito“ vorausahnen. „Silla“ wird in Innsbruck nach der 2020 herausgegebenen Neuedition von Roland Steinfeld gespielt. Mitleid mit den Figuren sollte die Musik auslösen und vor allem deren ambivalenten Gefühle ausloten. Paradoxerweise verstand Friedrich II. dabei sogar die Stimmen der vier Kastraten, für die Graun die Hauptpartien komponierte, als geschlechtsneutral und damit natürlich.

Mitreißender Wettstreit von vier Countertenören

In Innsbruck ist es nun ein mitreißender Wettstreit von vier Countertenören in unterschiedlichen Stimmlagen und Facetten: Hagen Matzeit dringt mühelos auch als besorgter Ratsherr auch in tiefere Lage vor, während Samuel Marino als Liebhaber sich mühelos in Soprankoloraturen zu schrauben versteht. Eindringlich wiederum warnt Valer Sabadus vor der Tyrannei. Im Zentrum jedoch stehen die oft lyrischen Reflexionen Sillas: mit warmherzig, gleichzeitig sehr bestimmenden Ausdruck singt Bejun Mehta die Titelpartie. „Fra Speme e timore“, zwischen Hoffnung und Angst schlägt mein Herz, heißt es in einer seiner vielen Arien.

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Das aus Spezialisten für Alte Musik zusammengesetzte Innsbrucker Festwochen-Orchester , von Alessandro de Marchi vom Cembalo geleitet, versteht einschmeichelnd, aber auch immer wieder energisch trotz viereinhalb Stunden Spieldauer die Intensität von Grauns Komposition aufrecht zu erhalten. In halsbrecherischen Koloraturen brilliert Crüsogono Meret Süngü als Tenor neben den Countertenören.

Auf wirkungsvolle Posen beschränken sich die Inszenierung von Georg Quander, die Kostüme und das Bühnenbild von Julia Dietrich. Die Szenerien – ein Innenraum mit pompejanischen Wandgemälden, dann wieder eine Säulenhalle oder ein öffentlicher Platz mit antiker Büste – lassen sich zeitlich nicht fixieren, wirken zugleich antik, barock, bisweilen auch zeitgenössisch modern. Zur Aussage des Stücks bezieht Quander nicht explizit Stellung. Friedrich II. will vermitteln, dass ein Tyrann lernen muss, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu besiegen. Im Fall von Silla ist es der Verzicht auf die von ihm heiß geliebte Octavia (Eleonra Belloci). So wird aus dem Herrscher ein Mensch, aus dem Diktator ein Diener des Volkes; Silla zieht seinen Tyrannenmantel aus.

Unter der künstlerischen Leitung von Alessandro de Marchi hat sich Innsbruck als Messeplatz für Alte Musik weiterentwickelt, bei der man auch abseits von Georg Friedrich Händel und Claudio Monteverdi immer wieder Entdeckungen machen kann. Am 18. August hat noch die venezianische Oper von Carlo Pallavacini „Amazone Corsara“ (1686) Premiere, am 25. folgt „Astarte“ von Giovanni Bononchini, die 1720 am Haymarket in London uraufgeführt wurde.