Luft unter die Flügel

Stolz? Natürlich sei sie das, sagt Anna Luise Kiss. Aber die neue Rektorin der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Filmwissenschaftlerin, Schauspielerin, die erste Frau auf diesem Posten und noch keine vierzig, ist es auf so unterschwellige Weise, dass man die Frage danach doch stellt. „Dass man von keinen anderen Frauen weiß, heißt nicht, dass es bisher keine gab“, sagt sie. Da war zum Beispiel Lore Espey. Sie leitete die Schule, die damals noch Staatliche Schauspielschule Berlin hieß, von 1953 bis 1955. In den offiziellen Annalen taucht sie nicht auf.

Frauen wie Lore Espey habe es an der „Ernst Busch“ immer wieder gegeben, sagt Kiss und betont: „Rektorate waren und sind immer Teamberufe“. Das sagt sie als Rektorin, aber auch als „revisionistische Historikerin“, wie sie sich selber nennt. Ein marktschreierisches „Ich bin die Erste!“ entspräche dem nicht. Anna Luise Kiss will relativieren. Sie sagt: „Nicht ich bin das Neue, sondern in der Gesellschaft ist etwas neu.“

Frau zwischen zwei Posten

Wer Anna Luise Kiss Ende September aufsucht, trifft eine Frau zwischen zwei Posten. Das Büro in der Potsdamer Filmuni ist schon verwaist – das neue in der Berliner Zinnowitzer Straße noch nicht ganz bezogen. Jahrelang hat Anna Luise Kiss in Potsdam zur Defa geforscht, sich tief hineingegraben in die Filmgeschichte der Stadt. Ein Schwerpunkt war Herrmann Zschoche, der Regisseur von „Karla“ und „Hälfte des Lebens“. 2016 recherchierte sie zu Waltraut Pathenheimer, der ersten Frau unter den Defa-Standfotografen. Die Frage „Warum Defa?“ weckt freundliches Erstaunen. Für Anna Luise Kiss, die gebürtige Heidelbergerin, ist es selbstverständlich, dass sie sich für das interessiert, was sie tagtäglich umgibt. Als Filmwissenschaftlerin in Babelsberg konnte sie gar nicht keine Nähe zur Defa entwickeln, sagt sie.

Und nun also: von der Filmuni Babelsberg ins Rektorat der vielleicht prägendsten Schauspielschmiede der Republik. Ein gewaltiger Sprung. Aber auch einer, der auf den ersten Blick größer scheint, als er ist. Als Filmwissenschaftlerin (Promotionsthema: „Topografie des Laiendarsteller-Diskurses“) hat sie sich intensiv mit Schauspieltheorien beschäftigt. Die Geschichten von Defa und Busch sind eng verwoben, sagt sie. Das „Defa-Nachwuchsstudio“, ging in den 1950ern in die Busch über. Und überhaupt: „Wenn man sich das Who ist Who der Defa anschaut, das sind fast alles Ernst-Busch-Absolventen.“ Oder sie lehrten dort, wie die Schauspielerin Jutta Hoffmann.

Theater als Handwerk

„Die Busch“. Das klingt nach Diva und steht doch für eine Idee von Theater als Handwerk wie kaum ein anderer Ort. 1905 als private Schauspielschule gegründet von Max Reinhart, brachte sie Generationen von markanten Schauspielpersönlichkeiten hervor. Absolventen wie Nina Hoss, Lars Eidinger, Milan Peschel, Devid Striesow. Regisseur:innen wie Thomas Ostermeier, Antú Romero Nunes, Suse Wächter. Vor allem aber steht die Schule für etwas, das sich durch die Jahre dort erhalten hat: Haltung. Die Schauspieler:innen sollen nicht zu Ausführenden werden, sondern zu Denkenden, sich Positionierenden.

Den Rektoren kam dabei in der Vergangenheit eine wesentliche Rolle zu. Vorgänger wie der Soziologe Wolfgang Engler, Rektor von 2005 bis 2017, waren nah dran an den gesellschaftlichen Diskursen. Anna Luise Kiss selbst nennt in erster Linie Klaus Völker, den Rektor von 1993 bis 2005, als Referenz: dessen Gabe, den Studierenden den Rücken freizuhalten. Aber als sie sich hochschulintern vorstellte und man ihr sagte, was man von ihr erwarte („intellektueller Wärmeofen sein“), gefiel ihr auch das. Identitätspolitik, Diversität, Inklusion, Nachhaltigkeit, Digitalität, mimetisches Spiel: In den Diskursen der jungen Theaterschaffenden ist sie zuhause. „Richtig dicke Bretter“, sagt Kiss. Gleichzeitig sagt sie: „Ich muss nicht diejenige sein, die immer mit neuen Prognosen nach vorne tritt. Meine Aufgabe wird eher sein, die Diskussionen zu ermöglichen.“

Achillesferse

Dass sie selbst „nicht vom Theater kommt“, nennt sie ihre Achillesverse. Anna Luise Kiss kommt eindeutig vom Film. Als Wissenschaftlerin, aber auch, ein absolutes Novum für jemanden in dieser Position, als Praktikerin. Als sie das erste Mal vor der Kamera stand, war sie 13. Diese Doppelgleisigkeit behielt sie lange bei. Drehte Serien und Filme, unter anderem „Jahrestage“ mit Margarethe von Trotta, und betrieb parallel wissenschaftliche Recherchen.

Dieses ungewöhnliche Profil rief auch Skepsis auf den Plan, als die Berufung bekannt wurde. Würde jetzt der Film Einzug halten an der Busch? „Die Realität zeigt doch, dass viele Schauspieler:innen längst beides verbinden“, sagt Anna Luise Kiss. Im Übrigen: Nein. Die Schule sei und bleibe ganz klar ein Ort für Darstellende Künste. Filmprojekte gebe es an der Busch übrigens parallel schon seit Langem. „Die brauchen mich da wirklich nicht für irgendeinen Richtungswechsel.“ Statt mit großer eigener Agenda tritt sie den Posten mit einer großen Offenheit an. „Meine Aufgabe ist es, den Studierenden Luft unter die Flügel zu geben.“

Vier Jubiläen zu feiern

Eine Zäsur steht dennoch ins Haus. Zunächst sind 2021 vier Jubiläen zu feiern. 70 Jahre Staatliche Schauspielschule, 50 Jahre Puppenspielabteilung, 40 Jahre Eingliederung des 1974 gegründeten Regieinstituts – und 40 Jahre der Name „Ernst Busch“, der 1981 mit dem Hochschulstatus einherging. Vor allem aber gilt es, sich am neuen Standort in Berlins Mitte einzuleben – dem ersten Standort, der die sieben Studiengänge geografisch vereint. Das Archiv will auch gesichtet und digitalisiert werden, eine Riesenaufgabe. Und dann sind da noch die dicken Bretter.

Was ihr an Theatererfahrung fehlt, ist sie bereit zu lernen, sagt Anna Luise Kiss. Und sie bringt neben der wissenschaftlichen Expertise etwas mit, was in diesem Job wesentlich ist: Erfahrung im Management. Sie war in Potsdam Vizepräsidentin. Ausdrücklich „Management“ übrigens, jawohl. Auch wenn es ein Kampfbegriff in der Kultur ist, und Kiss sagt: „zurecht“. Aber man könne ihn ja umwidmen. „Wir können etwas Eigenes draus machen.“ Lena Schneider