Tanzend in den Abgrund

Die kalte Dusche zuerst: Es fällt erstaunlich schwer, sich in diesen „Idoménée“ hineinzuhören, mit dem die Barocktage der Staatsoper ihren Auftakt geben. Das liegt nicht etwa daran, dass André Campras Deutung des Troja-Heimkehrer-Dramas im Gegensatz zu Mozarts Oper gleichen Stoffs praktisch unbekannt ist, die Ohren sich hier also auf Neuland in der Alten Musik einstellen müssen. Erst recht nicht liegt es am Barockorchester Le Concert d’Astrée, das für diese Produktion die gerade quer durch Europa tourende Staatskapelle ersetzt.

Es liegt am Saal selbst. Erschreckend, wie wenig die Akustik des Raums der Musik dient, weder empathisch Wärme noch Brillanz anbietet. Gefangen in dumpfer Resonanz ohne den belebenden Reichtum der Obertöne müssen die Musiker:innen in der praktisch neu errichteten Staatsoper gegen einen teilnahmslosen, sauertöpfischen Raum anspielen.

Hat irgendeine Musik hier gut geklungen?

Ein Pausenthema bei dieser Premiere: Hat hier irgendeine Musik zwischen Barock, Romantik und Moderne schon mal wirklich gutgeklungen? Und soll das ewig so bleiben, weil niemand an die noch längst nicht verheilten Wunden dieses Baudebakels rühren will?

Dieser an sich schon unbefriedigende Zustand nimmt bei „Idoménée“ besonders schmerzliche Formen des Vermissens an, weil es musikalisch so viel zu entdecken gäbe. André Campra mag weniger bekannt sein als Lully und Rameau, doch sein Beitrag zur französischen Musik ist nicht nur für Klanghistoriker von Interesse.

In die stark vom Theater und seiner Deklamation geprägte Tragédie en musique hat der 1660 in der Provence geborene Komponist einen guten Schuss italienischer Oper gemischt. Der zur etwas steifen Delikatesse tendierende französische Stil erhielt so einen deutlichen Zuwachs an Temperament.

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Emmanuelle Haim kommt das gerade recht. Die französische Dirigentin war bereits an der ersten Einspielung von „Idonénée“ beteiligt, die William Christie vor 30 Jahren erarbeitete. In seinem Ensemble spielte sie Cembalo. Sie weiß um die Schätze, die in dieser Oper schlummern, um die wundersam fließenden Übergänge zwischen Rezitativen, Arien und Tänzen, den faszinierenden Wechsel der Farbigkeit und das unentrinnbare Drängen des Dramas. Denn anders als bei Mozart, den die Bühnenkonvention zu einem frohen Ende führte, endet „Idoménée“ tragisch.

Die Götter, nach Trojas Fall gespalten und voller Rachlust, lassen sich weder von den Finten noch vom Gebet der Menschen milde stimmen. Kretas König Idoménée erleidet bei seiner Odyssee Schiffbruch und droht zu ertrinken.

In Todesangst verspricht er Neptun, für seine Rettung den ersten Menschen zu opfern, der ihm auf heimatlichen Boden begegnet. Es ist sein Sohn Idamante. Wie Campra die Szene ihres Wiedersehens auskomponiert, in der Vater und Sohn, zunächst ohne sich zu erkennen, eine emotionale Überwältigung erleben, zeigt einen wahren Meister des Musikdramas. Die zarte Berührung der Seelen stürzt durch die Erkenntnis des Schicksals in bodenlose Verzweiflung.

Verheerte Seelen, zürnendes Meer

Schuld, Eifersucht und die Last der Erinnerung: Nicht nur Vater und Sohn sind darin unauflösbar verstrickt, sondern auch Ilione, die verschleppte und von Idoménée bedrängte Prinzessin aus Troja und Électre, ihre Rivalin um das Herz von Idamante. Verheerte Seelen, umtost vom zürnenden Meer, peitschendem Sturm und Ungeheuern, die den Fluten entsteigen.

[Wieder am 14., 18. und 20. November. Jubiläumskonzert Le Concert d’Astrée am 8. November, es gibt noch Karten.]

Regisseur Àlex Ollé und sein Bühnenbildner Alfons Flores haben dafür einen Raum aus Glasscheiben erdacht, der vor allem Projektionen von Ertrinkenden, rauchenden Trümmern und kalter Palastpracht auffangen soll.

Ollé ist einer der Direktoren der 1979 gegründeten katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus, die schon lange von ihrem Ruf lebt. Ihre wirklich spektakulären Inszenierungen liegen heute auf Video gebannt in den Regalen theatergeschichtlicher Institute.

An der Staatsoper richtet der Regisseur zumindest keinen größeren Schaden an, auch wenn der Versuch, Campras Tänzen eine heutige Übersetzung für Chor und Tanzcorps angedeihen zu lassen, ein Moment von Lächerlichkeit heraufbeschwört, das „Idoménée“ naturgemäß wesensfremd ist.

Energie aus dem Graben

Die Energie kommt von anderswo, aus dem Graben, wo Emmanuelle Haims energisch auf und ab schnellende Hände zu erkennen sind und ihr erhobenes Haupt, das sich der Musik entgegenzuwerfen scheint. Alfred Brendel hat Haim bewundernd die „Anna Magnani der Klassik“ genannt.

Ihr vorwärtsstrebendes Temperament hält den Abend zusammen, die Konsistenz ihrer musikalischen Fassung lässt ihn über knapp drei Stunden inklusive Pause niemals langweilig werden. Zumal sich Haim blind auf die farbensprühende Spannkraft von Le Concert d’Astrée verlassen kann, das sie vor zwanzig Jahren gegründet hat.

Dem Wahnsinn die Tür öffnen

Auch ihren Sänger:innen, mit denen sie „Idoménée“ bereits an der Opéra Lille herausgebracht hat, ist Haim eine inspirierende Partnerin. In der Titelpartie erkundet Tassis Christoyannis seine Seele widerstrebend so radikal, dass er dem Wahnsinn die Tür öffnet.

Samuel Boden singt Idamante mit einer unerschütterlichen Zartheit, die sein Los umso grausamer erscheinen lässt. Chiara Skeraths Ilione gebietet in ihrer Not über eine starke, das Kantige nicht scheuende Stimme, die sie ins Zentrum dieser Geschichte von Krieg und Missbrauch führt. Musikalisch sind es Sternstunden.