Ein Forst ist keine Baumschule
Ein großes Herz für den deutschen Filmnachwuchs. Und ein großes Maul, um innerhalb der internationalen Berlinale-Sektionen den nötigen Raum zu beanspruchen. Das sind die Eigenschaften, die es laut Linda Söffker für die Leitung der Perspektive Deutsches Kino braucht. Söffker hat die seit 21 Jahren bestehende Sektion zwölf Jahre geführt. Nun geht sie nach insgesamt 23 Jahren Berlinale-Mitarbeit. Sie wechselt aus Lust auf Neues zur Defa-Stiftung, wo sie zukünftig sämtliche Publikationen betreut.
Ob der Ausstieg der künstlerisch wie kommunikativ aufgeschlossenen Söffker eine Zäsur bedeutet, wird sich wohl erst herausstellen, wenn die Nachfolge steht. Die scheidende Chefin hat sich von der Festivalleitung jedenfalls versichern lassen, dass die Perspektive bleibt, wie deren Profil auch immer zukünftig ausfallen mag.
Eine Hausgemeinschaft radikalisiert sich
Schon mit dem Amtsantritt von Carlo Chatrian ging eine Konzentration und Professionalisierung einher. Statt der üblichen Zwölf liefen auf der Berlinale 2020 nur noch acht Filme in der Perspektive, dieses Jahr sind es sieben.
Dafür finden sich jetzt häufiger welche darunter, die in ihrer formalen Geschlossenheit wie inhaltlichen Relevanz auch im Forum oder Panorama laufen könnten. Der Perspektive-Eröffnungsfilm „Wir könnten genauso gut tot sein“ von Natalia Sinelnikova ist so einer.
In der surrealen Dystopie erzählt die Absolventin der Babelsberger Filmuniversität vor der irrationalen Angst einer Hausgemeinschaft, die sich radikalisiert. Oder auch die Dokumentation „Ladies Only“ von Rebana Liz John. Die Innenansichten aus den Frauenabteilen der Nahverkehrszüge von Mumbai unterlaufen das Klischeebild vom bunten, wuseligen Indien durch schimmerndes Schwarzweiß.
Gegründet wurde die Perspektive von Dieter Kosslick und Alfred Holighaus, um die Präsenz des deutschen Kinos auf der Berlinale zu erhöhen. Eine institutionalisierte Quote gewissermaßen. Gerade auch für die in Deutschland reichlich vorhandenen Hochschulen.
Der Charakter der Förderung sollte im Vordergrund stehen, sagt Linda Söffker, eine Plattform für Talente, die zum ersten Mal über den roten Teppich gehen, Interviews geben und Publikumsgespräche führen. „Inzwischen ist der deutsche Filmnachwuchs selbstbewusster geworden. Aber international erfolgreicher nicht unbedingt.“ Deutschland habe nach wie vor ein Problem damit, Filme ohne Starpotential im Ausland zu verkaufen, glaubt sie.
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Dass Abschlussfilme gleich auf A-Festivals landen, ist allerdings nirgends ein Automatismus. Da braucht es dann doch eine eigene Schiene, wobei Söffker am Ende ihrer Amtszeit das Netzwerken präferiert. Wichtig sei der Campus Charakter und damit ihr Plan, die Perspektive näher an die Berlinale Talents heranzurücken.
Das sollte in diesem Jahr durch die Zweitreihe „Perspektive Match“ geschehen, die junge Regisseure, Produzentinnen, Kamerafrauen, Szenen- und Kostümbildner mit erfahrenen Fachkolleginnen in einem Patenprojekt zusammenbringen wollte. Die Talente hat Söffkers Team zwar ausgesucht, die flankierenden Film- und Gesprächsreihe sind jedoch der Pandemie zum Opfer gefallen.
Film ist Teamwork, kein einsamer Geniestreich
In Saralisa Volms Drama „Schweigend steht der Wald“ ist Daniel Kundrat für seine Montage als „Perspektive Talent“ benannt. Genauso wie die Kameraleute Sabine Panossian und Rafael Starman, die in „Echo“ und „Gewalten“ streng kadrierte, betont statische Bilder von Natur und Innenräumen gestaltet haben. Oder Fabian Halbig, der den Dokumentarfilm „Sorry Genosse“ von Vera Brückner produziert hat: eine muntere, mit farbigen Hintergründen und anderen Späßchen arbeitende Dokumentation, die von der Ost-West-Romanze und Republikflucht zweier Studis namens Hedi und Karl-Heinz erzählt.
Die Idee hinter der Gewerkeparade ist so schlicht wie treffend: Film ist Teamwork, kein einsamer Geniestreich. Und dass unter den 230 Einreichungen dieses Jahres wieder qualitativ hochwertige Debüts zu finden sind, liegt auch an Koproduktionen mit öffentlich-rechtlichen Sendern und Fördermitteln aus dem „Leuchtstoff“-Programm des Medienboards Berlin-Brandenburg.
Die pandemischen Zeiten haben dem Regienachwuchs zu Kontemplation und Konzentration genötigt. Dramaturgisch dominiert der Erzählfluss der angezogenen Handbremse. Gepaart mit viel Sinn für die Absurdität der Zustände. Motivisch sind Natur und der Wald der absolute Hit.
Kiefernmonokultur als bedrohlicher Ort
Und wie sich das für den nicht erst seit der Romantik virulenten deutschen Mythos gehört, ist der dunkle Forst weit mehr als nur eine Baumschule. In Gestalt von Moorleichen und Massengräbern drängen die Gräuel der Geschichte an die Oberfläche. Bedrohungs- und Geborgenheitsmetaphern wechseln sich ab.
In „Gewalten“ dient der Wald mit seinen tropfnassen Moosbänken als Fluchtpunkt für den jungen Daniel. In „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist die Kiefernmonokultur als bedrohlicher Ort inszeniert, den schnellstmöglich hinter sich lässt, wer kein Borkenkäfer ist.
Am aufmerksamsten liest Anja Grimm (!) die Natur. Die Forststudentin (Henriette Confurius) kann in „Schweigend steht der Wald“ Krume und Blatt verstehen. Bodenstörungen entstehen durch tiefe Grabungen. Zeigerpflanzen wachsen nur dort, wo eine bestimmte Stickstoffkonzentration vorhanden ist, die der umliegende Sandboden nicht aufweist. So seziert der unaufgeregt forensische Blick der Bodenkundlerin die ungeheuerlichsten Wahrheiten.