Moderne in Berlin, Wien und München: Die Alte Nationalgalerie zeigt „so viel Klimt wie nie“
Sie waren einmal der Skandal ihrer Zeit, die erotisierend-mystischen Gemälde des Münchners Franz von Stuck, die strahlend-elegischen Frauenbilder des Wieners Gustav Klimt und Max Liebermanns sturznüchterne Ansichten aus Amsterdamer Waisenhäusern. Heftig wurde über Unmoral und Dekadenz, über die Kunst als Angriff auf Sittlichkeit und Kapitalismus gestritten. Die „Gosse“ schien, so fürchtete keineswegs nur Kaiser Wilhelm II., in staatliche Kunstsammlungen einzuziehen. Lange passé.
Die Kunst der drei seit 1892 in München, Wien (1897) und Berlin (1898) gegründeten Sezessions-Künstlervereinigungen wird schon lange in jedem Schulbuch behandelt – als Gründungsmythos der Moderne. Längst ist sie ein wichtiger Bezugspunkt in Museumsprogrammen und für die Tourismusindustrie geworden.
Was also kann das Neue an der als Sensation verkauften Ausstellung zur Kunst der drei Sezessionen sein, die jetzt die Alte Nationalgalerie in Berlin und im Herbst das städtische Wien Museum zeigen? Zumal vor kaum zehn Jahren die Berlinische Galerie mit der Ausstellung „Berlin Wien“ die Spannungsbögen der Spree- und der Donau-Modernen bereits meisterlich zusammenband.
Gründungsmythos der Moderne
Damals wurde München als dritte Kunsthauptstadt der deutschsprachigen Modernen weitgehend ausgespart – während jetzt die Werke Franz von Stucks zu den Ankerpunkten der Ausstellung gehören. Im Nebeneinander des intensiven Selbstbildnisses des Berliners Lovis Corinth und des vorsichtig-zurückhaltenden Selbstporträts der Münchnerin Emilie von Hallavanya scheinen sich auch die Charaktere zweier Städte zu spiegeln, zwei Vorstellungen von der Funktion der neuen Kunst: Soll sie aggressiv die Welt verändern oder erst einmal spiegeln, was ist?
Die mehr als 200 Arbeiten von über 80 Künstlern und Künstlerinnen der Ausstellung stehen für eine Revolution des Sehens; wer vorher die Sammlung akademischer Kunst im Hauptgeschoss der Alten Nationalgalerie ansieht, kann ermessen, welche Phalanx zu durchbrechen war. Zumal nun auch Frauen in den Kanon mitaufgenommen werden.
Dora Hitz’ prachtvoll-fröhliche „Kirschenernte“ dominiert einen der Hauptsäle, Elena Muksch-Makowskys brutales Bild eines Bettlers, der eine tote Katze am Nacken zum Abendessen trägt, zeigt, wie eine um 1900 schon durchaus konventionell naturalistische Malerei Sozialkritik in die bürgerlichen Salons trug. Und zwar im Hochformat, das eigentlich für die Darstellung superreicher Dandys reserviert war.
Leistikows legendäres Gemälde „Grunewaldsee“, gleich zu Beginn der Ausstellung, zeigt ein damals vollkommen neues Bild der Natur. Kaiser Wilhelm II. ließ sich zu seinem legendären, naturalismusgläubigen Spruch „Dieser Leistikow hat mir den ganzen Grunewald versaut“ hinreißen.
Den Grunewald versaut
Aber auch jetzt ist Gustav Klimt der eigentliche Star der Ausstellung, mit mehr als 20 Gemälden und 80 Zeichnungen: „So viel Klimt war nie in Berlin“, schwärmt die Alte Nationalgalerie. Gnadenlos wird die lustvoll-goldene „Judith“ von 1901 aus dem Belvedere in Wien vermarktet. Aber sie und Klimts verrucht-blaue „Sünde“ aus der Berliner Nationalgalerie nebeneinander zu sehen, ist ein Erlebnis.
Ebenso aufregend: die Kontraste zwischen Klimts verspielter Allegorie der „Musik“ und Franz von Stucks elegisch harfendem Orpheus, der in mystischem Dunkel sehenden „Frau am Kamin“ mit dem eleganten Gesellschaftsporträt „Dame in Weiß“ von Ernestine Schultze-Naumburg.
Letztere, geborene Mack, war in München akademisch ausgebildet worden und hatte dort erste Erfolge mit impressionistisch-freieren Arbeiten. Sie wurde mit ihrem Mann, dem Architekten Paul-Schultze-Naumburg, zum Gründungsmitglied der Berliner Sezession und nach der Scheidung von ihm als Ernestina Orlandini zur Berühmtheit.
Augenmerk auf die Frauen
Die Ausstellung entfaltet eine stilistische Vielfalt, die keineswegs dem bereits um 1900 als Werbestrategie etablierten Bild „Wien = Klimt = Jugendstil“, „München = Stuck = Symbolismus“ und „Berlin = Liebermann = Impressionismus“ entspricht. Klimt war eben auch, wie unter anderem sein Portrait von Sonja Knips zeigt, ein mit impressionistisch-lichtflirrenden Mitteln agierender Gesellschaftsmaler.
Bei aller künstlerischen Pluralität und unterschiedlichen politischen Zielrichtungen wandten sich alle hier geziegten Künstler und Künstlerinnen gemeinsam gegen die alten Kunstvereine und gegen staatlichen Druck. Die Sezessionen zogen in den Kampf für die Freiheit der Kunst.
Internationalität noch ausbaufähig
Wer in den Sälen und Kammern der Alten Nationalgalerie genau hinsieht, wird also oft irritiert werden. Warmer, satter Sonnenschein wie in Maria Slavonkas Gemälde „Montmatre“ war das Lichtmotiv vieler Impressionisten und Postimpressionisten der 1880er und 1890er Jahre. Sie orientierten sich an der französischen Moderne. Dass die dazu gehörenden Werke als Pariser Leitbild fast aller Modernen in „ihrem“ Saal und damit im Zentrum der Sezessionen-Ausstellung blieben, ist ein kluger Kunstgriff des Kuratorenteams um Nationalgaleriedirektor Ralph Gleis und Ursula Storch vom Wien Museum. Damit wird der internationale Maßstab, vor dem die Sezessionisten agierten, wenigstens angedeutet.
Internationalität war eines der Ziele der Szessionen-Künstler:innen: In einem eher kleinen Saalabschnitt wird das mit Werken des Norwegers Edvard Munch und des Finnen Akseli Gallen-Kallela, des Schweden Anders Zorn, des Schweizers Segantini oder des Belgiers Minne klar.
Andererseits wird auch deutlich, wie wenig bisher die Skandinavier, Ungarn, Tschechen, Polen, Balten, Russen und Ukrainer in die auf die deutschsprachige Welt konzentrierten Sezessionisten-Darstellungen integriert worden sind.
Das blaue Licht hält Einzug
Es herrscht nun ein anderes, blaueres Lichtideal, kühler, klarer, magischer, zu sehen in Wilhelm Bernatziks an Shakespeares Hexen erinnernde, Druidenähnlichen Frauenfiguren; zu sehen auch im „Blauen Zimmer“ von Gottfried Kühl oder in Lesser Urys „Frau am Schreibtisch“, bei Eugen Sapiros entspannt ihren „Landaufenthalt“ genießende Frau am Fenster, in Gottlieb von Hartenkampfs perfekt aufgeräumtem Atelier im graublauen Nordlicht oder in Carl Molls Wohnzimmer im eigenen Haus in Wien – sie alle schwelgen in Blautönen.
Gerade angesichts dieser Bilder, die ja auch neue Lebenswelten zeigen, und den erlesenen Silberarbeiten, die es begleiten, wird allerdings auch das ganz große Manko dieser Ausstellung klar: Es fehlt bis auf einige Pläne der Sezessionsgebäude in München, Wien und Berlin – nur das in Wien steht noch – die Architektur. Unverständlicherweise, waren doch Architekten wie Olbrich, Behrens, Wagner oder Hoffmann waren oft Gründungsmitglieder, höchst engagiert auf allen Kunstfeldern.
Wirklich Neues erfährt man in dieser Ausstellung also nicht – aber das Bekannte wird in neuen Farben, in neuem Zusammenspiel von Geschichte und Formen gezeigt. Und gerade die Wohnungsinnenansichten (leider ebenfalls in einem Kabinett zusammengepfercht) sind eine echte, auch sozialhistorisch interessante Entdeckung: Ausgerechnet Sezessionisten, denen man damals so ziemlich jede erdenkliche Künstler-Unmoral zuschrieb, beschworen das Schillern des ruhigen, bürgerlichen Lebens.
Auch in solchen Details zeigt sich, wie schwer es für die einstigen Neuerer war, ihren Status als solche aufrechtzuerhalten: Schon 1899 splitterte sich die Münchner Sezession auf, 1902 zerfiel die Berliner Sezession, musste den Kräften des Expressionismus und neuen Modernen Raum geben.