Englands Sieg ist das Ergebnis einer neuen Philosophie

In den Straßen von London hupten die Autos vor purer Freude. Das mag sich ja nicht wirklich besonders anhören, kommt auf der Insel aber fast einer Revolution gleich. In anderen Ländern hupt man nach einem gewonnenen Fußballspiel vor kollektiver Freude. In England gilt die Autohupe auch im normalen Straßenverkehr nur als allerletzte Möglichkeit. Der Engländer schimpft zwar wie ein Rohrspatz hinter seinem Lenker. Und er erzählt all seinen Freunden später, wie schlecht und gefährlich der andere Engländer gefahren ist. Hupen tut er aber nicht.

Doch jetzt hupen sie, die Engländer. Nach 55 Jahren steht die Fußballnationalmannschaft endlich wieder im Finale eines großen Turniers, und entweder per Zufall oder Schicksal findet das Spiel wieder im heimischen Wembley-Stadion statt. Nach dem hart erkämpften 2:1-Sieg gegen Dänemark am Mittwochabend kehrt der Fußball endgültig zurück an jenen mystischen Ort, den die englischen Fans für sein Zuhause halten. Das alte Lied von David Baddiel, Frank Skinner und The Lightning Seeds verdrängt sogar Ed Sheeran von der Spitze der Charts.

Die Engländer wären nicht die Engländer, wenn sie ihre normalerweise verkrampften Emotionen nicht völlig hemmungslos in die Nacht entladen würden. Als sie mit anderen Kollegen den Müll des vorigen Abends vom Londoner Leicester Square räumte, beschwerte sich eine Mitarbeiterin bei dem Reporter der Press Association. “Es ist eine Schande, sie haben den Brunnen bestiegen und das Irrigationssystem beschädigt,” sagte sie. Doch sie wird sich wohl auf noch mehr solcher Auswüchse einstellen müssen. Denn die Party wird nun bis Sonntag andauern. Vielleicht sogar noch länger.

Favoriten auf den Titel

Schon jetzt gibt es eine Flut an plappernden Köpfen, die die historische Bedeutung dieses Sieges in den Fernseh- und Radiostudios einordnen. Und sie halten sich nicht zurück. “Fußball ist jetzt schon nach Hause gekommen, weil wir im Finale stehen,” sagte der Komiker und Teilzeit-Sänger Baddiel gegenüber der BBC. Der frühere England-Trainer Steve McClaren, dessen nasser Regenschirm sinnbildlich für das größte Tief des englischen Fußballs in den letzten Jahrzehnten stand, machte es sogar wie damals Franz Beckenbauer. “Auch, wenn wir das Finale verlieren, gibt es nun eine Generation, die etwas erreichen kann, und den Weltfußball in den nächsten Jahren dominieren wird,” hupte der Mann, der 2008 mit England die EM-Qualifikation verpasst hat.

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Das ist wohl ein bisschen zu weit nach vorne gedacht. Denn zuerst müssen die Engländer gegen eine italienische Mannschaft auskommen, die nicht umsonst als Favorit auf den Titel gilt. Etwas zerschrammt aber auch sturmerprobt geht das Team von Roberto Mancini in dieses Finale. Sie sind ähnlich effizient wie die Engländer ins Finale marschiert, und das gegen durchaus stärkere Gegner im Viertelfinale und Halbfinale. Ob Englands Minimalismus gegen die Verzierungen der Mancini-Renaissance bestehen kann, bleibt trotz der aktuellen Freude fraglich. Zumal England als Heimmannschaft unter gehörigen Druck stehen wird.

Ohne Lärm und Hype

Doch mit diesem Druck gingen die Spieler von Gareth Southgate bisher hervorragend um. Gegen Deutschland blieben sie kühl, gegen die Ukraine waren sie gnadenlos. Gegen Dänemark gelang es ihnen, ein ganz hartes Spiel bis zum Ende unter Kontrolle zu halten, und mit einem Moment der schrecklichen, aber professionellen Cleverness am Ende zu gewinnen.

Und auch deshalb stehen sie verdient im Finale. Denn unter der Führung von Gareth Southgate arbeitet England nicht mehr wie ein neurotisches verwöhntes Kind, sondern tatsächlich wie eine Fußballmannschaft. Die Einstellung, mit der die Spieler durch dieses Turnier marschiert sind, ist auch das Ergebnis einer neuen Kultur, das hyperbolische Hupen auszublenden und sich einfach auf den Job zu konzentrieren. ”Ich habe in den letzten Jahren verfolgt, wie die FA strategisch vorgegangen ist und wie Gareth diese Mannschaft geführt hat. Wie er mit jungen Spielern arbeitet, wie er sich engagiert und kommuniziert und die Werte, die er hat, sind außergewöhnlich,” sagte der geschlagene Dänemark-Trainer Kasper Hjulmand am Mittwoch.

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Seinen Pragmatismus zeigte Southgate gegen Dänemark erneut, indem er den erst in der zweiten Hälfte eingewechselten Jack Grealish in der Verlängerung wieder herunternahm, um sein Team mehr defensive Stabilität zu verleihen. Anders als frühere England-Trainer hat er keine Angst, die Bedürfnisse der Mannschaft über das Ego des Einzelnen zu stellen. Und die Spieler reagieren positiv darauf. Unter Southgates Führung sind sie zu einer Truppe gereift, die auch ohne den Lärm und den Hype an sich glaubt.

“Man kann so viel reden, wie man will, aber am Ende geht es darum, auf dem Platz zu liefern,” sagte Kapitän und Siegtorschütze Harry Kane. “Gegen Dänemark lagen wir zum ersten Mal hinten, doch wir wurden nicht panisch, wir sind ruhig geblieben.” Nun müssen sie nur noch einmal ruhig bleiben, nur noch einmal das Hupen ausblenden, und sich auf den Job fokussieren.